Beim ersten Om wird alles anders
war schon immer Yogi - und habe es erst jetzt gemerkt
Nun habe ich ein Jahr Yoga hinter mir. Zeit, Zwischenbilanz zu ziehen.Was ich anfangs nicht für möglich gehalten hätte: Yoga passt zu mir, und ich passe offenbar auch ein wenig zuYoga. Und damit meine ich nicht nur, dass ich den Kopfstand mittlerweile mit im Lotossitz gekreuzten Beinen ausführe, dass ich mich so über die ausgestreckten Beine beugen kann, dass meine Stirn fast die Knöchel berührt oder dass ich auf dem Rücken liegend meine Beine hinter dem Kopf verknoten kann.
Doch, ja, das kann ich. Über diese erstaunlichen neuen Fertigkeiten hinaus, die mir die Illusion vermitteln, dass meine Yoga-Übungen den Alterungsprozess nicht nur aufgehalten,
sondern hinsichtlich der Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit umgekehrt zu haben scheinen, gefällt mir auch die Yoga-Philosophie, soweit ich sie in Ansätzen verstanden habe: Man muss sich einlassen auf Menschen und Dinge, offen sein, doch keine großen Bindungen oder Abhängigkeiten entwickeln, und niemandem, weder Menschen noch Tieren, bewusst schaden wollen. Ein Vergleich, den ich gehört habe, trifft es ganz gut: Ein Yogi bewegt sich durchs Leben wie ein Boot durchs Wasser. Am schnellsten kommt es vorwärts, wenn es zwar auf dem Wasser ist, aber ein Stück aus dem Wasser ragt.
Wenn ich es mir recht überlege, war ich vielleicht schon immer ein verkappter Yogi und wusste es nur nicht. Ich kam schon fast als Vegetarier auf die Welt, seit ich knapp vier Jahre alt bin, esse ich kein Fleisch. Irdische Besitztümer habe ich, abgesehen von zahllosen Büchern, nicht. Das Geld, das ich als Jurist verdiene, investiere ich in schöne Urlaube und diverse Wohnungseinrichtungen.
Meine derzeitige Wohnung ist wie alle bisherigen Wohnungen gemietet und sparsam eingerichtet, mein Auto ist ein wenig glamouröser Firmenwagen. Ich habe einen kleinen Fernseher von Aldi, eine Stereoanlage, die ich mir von meinem ersten Anwaltsgehalt Anfang der 90er-Jahre des letzten Jahrtausends gekauft habe und die einfach nicht kaputtgehen will. Die Verpflichtungen, die mit einem Telefon- oder Internet-Festnetzanschluss einhergehen würden, machen mich unruhig. Meine Teilnahmeberechtigungen in Fitnessstudios oder in Yoga-Schulen basieren auf Zehnerkarten. Monats- oder gar Jahreskarten wären finanziell viel vernünftiger. Aber derartige längerfristige Verpflichtungen vermeide ich ebenfalls.
Ich könnte mich nie für einen Lieblingsort entscheiden,
an dem ich eine Ferienwohnung kaufen würde, meine Urlaube, die selten länger als eine Woche dauern, buche ich immer Last Minute, Brückentage nehme ich erst wahr, wenn sie unmittelbar bevorstehen und alle Kollegen längst ihre lange vorher organisierten Reisen antreten. Der einzige Verein, in dem ich je Mitglied war, war ein Anwaltsverein am Ort meiner ersten Kanzlei. Nach einem Jahr hatte ich beschlossen, Kanzlei und Ort für immer zu verlassen. Aus dem örtlichen Anwaltsverein bin ich ausgetreten und keinem weiteren je beigetreten. Sonstige Vereine, die mich als Mitglied aufnehmen würden, meide ich.
Der letzte Geburtstag, den ich mit Gästen gefeiert habe, war mein zehnter, und dieser endete abrupt, als um 18 Uhr Kung Fu mit David Carradine im Fernsehen kam und ich alle Gäste nach Hause geschickt habe, weil ich die Sendung lieber alleine anschauen wollte.
Meinen 30. Geburtstag verbrachte ich mit meinen Großeltern, mit denen ich auf ihre alten Tage gerne verreiste, in einem hauptsächlich von Familien mit Kleinkindern bevölkerten Hotel auf Mallorca. Aus Langeweile und weil wir trotz großer Sympathie füreinander aufgrund schwäbischer Verschlossenheit wenig Tiefgründiges miteinander zu besprechen hatten, schauten wir dort tagelang alle Fernsehberichte über das damals aktuelle Estonia -Schiffsunglück an.
Meinen 40. Geburtstag verbrachte ich, obwohl ich die Insel nicht mag, ebenfalls auf Mallorca, in einem schrecklich spießigen Hotel mit einem Strand, von dem mir nur der von Weitem sichtbare Intimschmuck einer Nacktbaderin ewig in schlechter Erinnerung bleiben wird. Das Hotel hatte mir ein damals befreundetes Paar empfohlen, mit dem ich danach nie mehr geredet habe.
Meine Lieblingsfigur in der Romanliteratur ist Jack Reacher, ein vom Autor Lee Child erfundener ehemaliger
Militärpolizist, der keinen festen Wohnsitz hat und ohne Gepäck, nur mit einer faltbaren Zahnbürste ausgestattet, durch die USA reist, gelassen in sich ruhend, aber stets bereit, aufseiten der
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