Beim Leben meiner Schwester
ihr Herz unter meiner Hand aufhört zu schlagen â spüre dieses winzige Aussetzen, diese hohle Ruhe, diesen endgültigen Verlust.
EPILOG
Wenn auf dem Bürgersteig
Bebende Flammen des Lebens,
Menschen um mich herum flackern,
Vergesse ich meine Trauer,
Die Lücke im Sternbild,
Den Ort, wo einst ein Stern war.
D. H. LAWRENCE,
âºSubmergenceâ¹
KATE
2010 Es müÃte eine Verjährungsfrist für Trauer geben. Ein Regelwerk, in dem steht, daà man jeden Tag weinend aufwachen darf, aber nur einen Monat lang. Daà du nach zweiundvierzig Tagen nicht mehr mit Herzrasen herumfährst, weil du sicher bist, ihre Stimme gehört zu haben, die deinen Namen ruft. Daà du nicht mit einem BuÃgeld belegt wirst, wenn du das Bedürfnis empfindest, ihren Schreibtisch auszuräumen, ihre gemalten Bilder vom Kühlschrank zu entfernen, ihr Schulfoto im Vorbeigehen umzudrehen â und sei es auch nur, weil der Blick darauf die Wunde wieder aufreiÃt. Daà es nicht schlimm ist, die Jahre, die sie nicht mehr da ist, so zu zählen, wie wir früher ihre Geburtstage gezählt haben.
Noch lange danach behauptete mein Vater, er könne Anna am Nachthimmel sehen. Mal war es ihr Augenzwinkern, mal ihr Profil. Er lieà sich nicht davon abbringen, daà Sterne geliebte Menschen waren, die in Sternbildern nachgezeichnet wurden, damit sie ewig weiterlebten. Meine Mutter glaubte lange Zeit, daà Anna zu ihr zurückkommen würde. Sie fing an, nach Zeichen Ausschau zu halten â Pflanzen, die zu früh blühten, Eier mit doppeltem Dotter, verschüttetes Salz in Form von Buchstaben.
Und ich, tja, ich fing an, mich selbst zu hassen. Es war natürlich alles meine Schuld. Wenn Anna nie diesen Antrag gestellt hätte, wenn sie nicht in dem Gerichtsgebäude gewesen wäre und mit ihrem Anwalt irgendwelche Papiere unterschrieben hätte, dann wäre sie nicht in diesem bestimmten Moment an dieser bestimmten Kreuzung gewesen. Dann wäre sie noch da, und ich wäre es, die ihr ständig im Kopf herumspukt.
Ich war noch lange krank. Die Transplantation wäre fast fehlgeschlagen, und dann begann ich, für alle unerklärlich, den langen steilen Aufstieg. Seit meinem letzten Rückfall sind acht Jahre vergangen, und das kann sich nicht mal Dr. Chance erklären. Er glaubt, es liegt an einem Zusammenwirken von ATRA und der Arsentherapie â einem nachträglichen Zusatzeffekt â, aber ich weià es besser. Es liegt daran, daà eine gehen muÃte, und Anna hat meinen Platz eingenommen.
Trauer ist etwas Seltsames, wenn sie unerwartet kommt. Sie ist wie ein Pflaster, das abgerissen wird und die oberste Schicht einer Familie mitnimmt. Und darunter ist keine Familie schön, unsere bildet da keine Ausnahme. Es gab Zeiten, da blieb ich tagelang in meinem Zimmer und behielt die Kopfhörer auf, und sei es auch nur, damit ich meine Mutter nicht mehr weinen hören muÃte. Es gab Wochen, in denen mein Vater rund um die Uhr arbeitete, damit er nicht in ein Haus heimkehren muÃte, das plötzlich zu groà für uns schien.
Und dann stellte meine Mutter eines Morgens fest, daà wir alles EÃbare im Haus verzehrt hatten, bis hin zu den letzten verschrumpelten Rosinen und Knäckebrotresten, und sie fuhr zum Supermarkt. Mein Vater bezahlte ein paar Rechnungen. Ich setzte mich vor den Fernseher und sah mir eine alte âºHoppla-Lucyâ¹-Sendung an und muÃte plötzlich lachen.
Sofort hatte ich das Gefühl, ein Heiligtum entweiht zu haben. Ich legte mir verlegen die Hand vor den Mund. Jesse saà neben mir auf der Couch, und er sagte einfach: »Sie hätte das auch lustig gefunden.«
Es ist nämlich so, ganz gleich, wie sehr man an der bitteren, wehen Erinnerung festhalten will, daà jemand diese Welt verlassen hat, man selbst ist noch da. Und der reine Akt zu leben ist wie eine steigende Flut: Zuerst scheint sich gar nichts zu verändern, und dann blickt man eines Tages nach unten und sieht, wieviel Schmerz weggespült wurde.
Ich frage mich, was sie wohl alles von uns mitbekommt. Ob sie weiÃ, daà wir lange Zeit engen Kontakt zu Campbell und Julia hatten, sogar auf ihrer Hochzeit waren. Ob sie versteht, daà wir die beiden deshalb nicht mehr sehen, weil es einfach zu weh tat, denn selbst wenn wir nicht von Anna sprachen, war sie in den Leerstellen zwischen den Wörtern spürbar.
Ich frage mich, ob sie bei
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