Beiss mich - Roman
mich nur darum gebeten hätte. Doch er hängte nur meine Jacke an die verspiegelte Garderobe, dann zog er seinen Mantel aus. Darunter kam Freizeitkleidung zum Vorschein, die dem Mantel qualitativ in nichts nachstand. Zu den gut sitzenden Designerjeans trug er ein weißes Hemd mit Stehkragen und darüber einen altmodischen, aber erstklassigen Pullunder mit Rautenmuster, der die athletische Form seiner Schultern betonte.
Er hängte Schal und Mantel auf und ging zu einem der angeberisch ausladenden Ledersessel. Seine Bewegungen hatten etwas von der mühsam gebändigten Kraft einer großen Katze. Es schien fast, als würde er in einer raubtierhaften Anmut und mit vollkommener Balance gleiten. Er setzte sich, schlug lässig die Beine übereinander, nahm eine Illustrierte vom Tisch und fing an zu blättern. Meine Blicke wurden magisch zuerst von seinen muskulösen Oberschenkeln in den stramm sitzenden Jeans und anschließend von seinen Händen angezogen, die von derselben marmornen Blässe waren wie sein Gesicht. Die Finger waren lang und schlank, die Nägel liefen ein wenig spitz zu. An einem anderen Mann hätten spitze Fingernägel und bleiche Hände sicher abstoßend gewirkt, doch ich weiß genau, dass ich den Anblick damals als etwas vollkommen Natürliches empfand. Mehr noch: Ich fühlte den dringlichen Wunsch, dass er mich nochmals mit diesen Händen anfassen möge!
Ich starrte ihn an und vergaß völlig, weshalb ich hergekommen war. Er schien meine Blicke zu spüren, denn er hörte auf zu blättern und schaute hoch, um mich kurz, aber ungeheuer intensiv anzusehen. Dann hüstelte er und vertiefte sich wieder in die Illustrierte. Ich verkrampfte mich. Sogar sein Räuspern hatte einen erotisierenden Effekt auf mich! Ich schluckte und merkte, wie mir in den Handflächen der Schweiß ausbrach. Das war mir zum letzten Mal im siebten Schuljahr passiert, als ich vor unerfüllter Sehnsucht nach unserem blonden Französischreferendar schier vergehen wollte. Einmal, als er mit seiner sonoren Stimme eine Passage aus Le Malade Imaginaire vorgetragen hatte, war ich davon derart hingerissen gewesen, dass ich hyperventiliert hatte und, gestützt von zwei kräftigen Mitschülern, ins Sekretariat geführt werden musste. Noch jahrelang hatte dieser Referendarmonolog dazu herhalten müssen, die Masturbationsphantasien meiner heranblühenden Weiblichkeit anzureichern. Und dabei hatte der Typ damals trotz vergleichsweise vieler Worte nicht annähernd so kultiviert, geschliffen und dabei zugleich betörend sinnlich gesprochen wie Rainers neuer Notfallpatient!
Ich unterdrückte ein Seufzen und setzte mich ebenfalls, wobei ich bewusst einen Sicherheitsabstand von drei Sesseln einhielt. Es kam selten vor, dass ich körperlich so stark auf einen Mann reagierte. Passierte es doch einmal, war Vorsicht geboten, denn meine bisherigen Erfahrungen hatten mich gelehrt, dass Mann ein Synonym für Ärger ist. Intimitäten führen zu nichts außer zur Anhäufung ungezählter Probleme. Grund genug, es gar nicht erst dazu kommen zu lassen. Am besten war es, jede Glut gleich im Keim zu ersticken. Erst recht, wenn zum Anfeuern besagter Glut nichts weiter nötig war als ein bisschen Hilfestellung beim Ausziehen einer wattierten Jacke.
Betont gelangweilt suchte ich nach anderweitigen Objekten, denen ich gefahrlos mein Interesse zuwenden konnte. Auf dem Beistelltisch neben meinem Sessel lag eine Tageszeitung von gestern, die ich mir nahm.
Im Durchgang zu den Behandlungszimmern erschien die Sprechstundenhilfe, die heute Dienst hatte, klein, zart gebaut und blond, ganz so, wie Rainer weibliche Wesen – einschließlich meiner Person – schätzte.
»Frau Doktor von Stratmann?«, zirpte sie fröhlich und ohne jedes Anzeichen von Stress. Stress war kontraproduktiv und störte die Behandlung. Permanentes Lächeln, so lautete die Devise in Rainers Praxis, und zwar Lächeln mit vielen, sichtbar gesunden, strahlenden Zähnen, wie es sich für standesgemäßes Zahnarztpersonal gehörte. Am Telefon, wo man das Lächeln leider nicht sehen konnte, mussten es schleimige Auswürfe tun, etwa: Zahnarztpraxis Doktor von Stratmann, mein Name ist Sonja-Anja-Tanja, was kann ich für Sie tun?
Sonja-Anja-Tanja oder wie auch immer sie hieß, näherte sich und lächelte mit mindestens dreißig Zähnen, gegen deren blendendes Weiß sogar ihr Kittel verblasste. »Hatten Sie angerufen, Frau Doktor von Stratmann?«
»Selbstverständlich«, behauptete ich. »Ich bin ein Notfall
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