Benjamin Rootkin - Zeiten voller Zauber, eine Weihnachtsgeschichte
Vorhänge waren geschlossen, so dass Ben keinen Blick auf die Fahrgäste werfen konnte, aber er erkannte ein herzogliches Wappen, das an den Türen prangte.
„Nette Frau“, brummelte Mr.Stendal.
Ben, der vom Anblick der eleganten Kutsche fasziniert war, hatte nicht richtig zugehört.
„Was sagen sie?“
„Nette Frau, die Mrs.Goodman“, wiederholte der Kutscher.
„Eine sehr nette Frau!“, bestätigte Ben. Die Sache wurde immer interessanter.
Mrs.Goodman stand in der Ladentür, als die Kutsche vorfuhr. Sie trug eine helle Bluse mit hochgeschlossenem Kragen und einen schwarzen Rock mit vorgebundener grauer Schürze. Das Haar hatte sie der neuesten Mode entsprechend nach oben gesteckt. Ihr rundliches Gesicht war von der Kälte gerötet, aber ihre Augen strahlten gutgelaunt.
„Guten Morgen, Mr.Stendal. Guten Morgen, Ben“, rief sie fröhlich, als die Kutsche vorfuhr.
„Guten Morgen, Mrs.Goodman“, sagte Ben höflich.
Mr.Stendals Begrüßung klang wie das Knurren eines Hundes. Irgendwie wirkte er verlegen. Seine Finger zitterten leicht, als er die Zügel an der Stellbremse festmachte. Mrs.Goodman schien nichts davon zu bemerken, denn sie lächelte den alten Kutscher freundlich an.
„Kommt rein Männer und wärmt euch erstmal auf. Ich habe frischen Tee aufgebrüht.“ Sie zwinkerte Mr.Stendal zu. „Ein guter Schuss Rum darf dabei auch nicht fehlen.“
Sie führte die beiden durch den Laden hindurch in den abgetrennten Wohnbereich, der sich daran anschloss. Wie immer, wenn er das Lebensmittelgeschäft betrat, staunte Ben über die Menge der verschiedensten Waren. Auf der einen Seite standen Körbe mit Trockenfrüchten und Nüssen. Gleich nebenan stapelten sich in einem großen Regal Konservendosen, die unterschiedliche Sachen enthielten. Gemüse, Wurst, Fleisch und Schmalz waren darin haltbar eingepackt. In einem tönernen Topf unter einem schweren Holzdeckel lagerte Pökelfleisch, das einen intensiven Geruch verströmte. Gleich daneben die Gurkenfässer, deren Essigduft ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Frischgebackenes Brot, angeliefert von einer in der Nachbarschaft liegenden Bäckerei, lag verlockend knusprig in einem anderen Regal. Bens Magen begann, beim Anblick dieser Schätze zu knurren. Von frischem Brot konnten die Kinder im Waisenheim nur träumen. Durch den ständigen Geldmangel war Father Duncan gezwungen, die Restbestände der Geschäfte zu kaufen. Welkes Gemüse für Eintopf ohne Fleisch, hart gewordenes Brot und halbverfaulte Kartoffeln, für mehr reichten die Mittel nicht. Ben wurde schon bei dem Gedanken an Kohlsuppe übel, und der Geruch verfolgte ihn bis in seine Träume.
Mrs.Goodman hatte die hungrigen Blicke des Jungen beobachtet. Sie mochte Ben. Er war ein guter Junge, fleißig und höflich, nicht so wie die Rangen aus der Nachbarschaft, die wie die Raben stahlen, wenn man sie nur eine Sekunde aus den Augen ließ. Mitleidig betrachtete sie Ben in seiner schäbigen, viel zu weiten Kleidung, die um seine ausgemergelte Figur schlotterte. Die für ein Kind seines Alters viel zu rauen Händen kneteten verlegen die alte Wollkappe, die er abgenommen hatte. Sie wusste, dass er Hunger hatte, aber sie wusste auch, das er viel zu stolz war, um etwas zu bitten.
Ihre Hand legte sich auf seine Schulter.
„Na, was meinst du Ben, während Mr.Stendal seinen Grog schlürft, könnte ich dir doch ein dickes Brot mit gesalzener Butter schmieren.“
Die Dankbarkeit in seinen Augen veränderte sein sonst so ernstes Gesicht. Ein Lächeln nahm den Platz ein, und Mrs.Goodman fand, dass er nun wieder wie ein elf Jahre alter Junge aussah und nicht wie ein älterer Mann mit glatten Gesichtszügen.
Das Frühstück war fast vorüber. Der Kutscher hielt sein Glas Tee mit beiden Händen umfasst und blies vorsichtig hinein. Es war schon sein drittes Glas, und der Rum begann langsam Wirkung zu zeigen. Seine zurückhaltende, muffige Art war verschwunden, und er plauderte munter mit Mrs.Goodman, die diese Aufmerksamkeit sichtlich genoss und jedes Mal kicherte, wenn der Kutscher eine seiner anzüglichen Anekdoten aus seinem Berufsleben zum Besten gab.
Ben konnte nur staunen, wie offensichtlich gut die beiden zueinander passten. Ihre Gesten wirkten aufeinander eingespielt, als wären sie schon seit Jahren ein Paar. Wirklich erstaunlich, dachte Ben, ich kann es sehen, aber sie selbst merken es nicht.
Aus dem Geschäftsraum erklang das helle Bimmeln der über der Eingangstür angebrachten
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