Benjamin Rootkin - Zeiten voller Zauber, eine Weihnachtsgeschichte
selbst innerlich für seine Stotterei.
„So, so. Gar nichts.“ Zwei große Schritte, und er stand vor Ben. Sein Atem verriet dem Jungen, dass er ungeachtet der frühen Stunde schon Whisky getrunken hatte. Blutunterlaufene, übernächtigte Augen starrten bösartig auf ihn herunter. „Wenn ich dich beim Stehlen erwische, hacke ich dir die Hände ab!“ Drohend fuchtelte der Silberknauf des Spazierstocks vor Bens Nase.
„Ich habe nichts gestohlen!“, entfuhr es Ben wütend.
Aus dem Hinterzimmer erklang Mrs.Goodmans strenge Stimme.
„Ben? Bist du da?“
„Ja, Mrs.Goodman.“
Die angelehnte Tür öffnete sich, und die massige Gestalt von Mrs.Goodman schob sich in den Raum. Hinter ihr erschien Mr.Stendal, dessen gerötete Backen von mehreren Grogs kündigten.
„Wo warst du denn so lange, Ben?“ Bevor er antworten konnte, entdeckte sie ihren Neffen. Augenblicklich war Ben vergessen. Ihr Gesicht nahm einen missbilligenden Ausdruck an.
„Ich sehe, du warst wieder im Club!“, sagte sie mit verächtlicher Stimme. „Aber darüber unterhalten wir uns später. Ben, komm jetzt. Wir müssen die Waren für das Waisenhaus aufladen. Father Duncan wird schon auf dich warten.“
Sie und der Kutscher verließen den Laden in Richtung Hinterhof. Ben, froh darüber, dass er nicht hatte lügen müssen, beeilte sich, ihnen zu folgen. Er verspürte keine Lust, auch nur eine weitere Sekunde in der Nähe des widerlichen Will Crandel zu verbringen.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, schlich Will zur Kasse hinüber. Ebenso geschickt wie Ben zuvor, öffnete er sie. Fast nichts drin. Nur ein paar Münzen, die er in seine Tasche gleiten ließ. Er wollte die Lade gerade wieder schließen, als sein Blick auf den Zettel fiel, den Ben geschrieben hatte. Aha, dachte Will, dieser kleine Bastard war also doch an der Kasse gewesen. Nachdem er den Zettel gelesen hatte, wusste er, dass irgendetwas an der Sache faul war. Da war die Rede vom Verkauf zweier Konservendosen, aber Will Crandel wusste, dass seine Tante es Ben nie erlauben würde, die Kasse zu bedienen. Wahrscheinlich hatte sich der Junge die Sachen heimlich unter den Nagel gerissen und versuchte nun, die ganze Angelegenheit zu vertuschen. Das Geld war bestimmt gestohlen, und Ben wollte so einer Befragung nach dessen Herkunft aus dem Weg gehen.
Will nahm den Zettel aus der Kasse, knüllte ihn zusammen und warf ihn verächtlich auf den Boden, wo das Papier unter ein Regal rutschte.
Es wird Zeit, dass ich diesem kleinen Scheißer eine Lektion erteile, dachte Will. Er wusste zwar noch nicht wie, aber irgendeine Möglichkeit fand sich immer. Als häufiger Kartenspieler wusste er, dass das Schicksal jedem die richtigen Karten auf die Hand gibt. Man musste nur Geduld haben.
Kapitel 5
Die Kutsche war schnell beladen, allerdings wankte Mr.Stendal inzwischen bedenklich. Sein Gesicht hatte eine rötliche Färbung angenommen, aber Ben konnte nicht sagen, ob das durch die Kälte oder von dem genossenen Alkohol kam. Auf jeden Fall war der Kutscher bester Laune. Er summte die ganze Zeit eine Ben unbekannte Melodie, und ein seliges Lächeln tanzte in seinen Augen.
Ben dagegen war ungewöhnlich still, was aber Mr.Stendal nicht auffiel. Schweigend nahm er die Holzkisten und trug sie in die Kutsche, deren Sitze mit alten Leinentüchern abgedeckt waren. Bald stapelten sich die Sachen bis zur Decke, und die Rückfahrt konnte losgehen.
Mr.Stendal lenkte seinen Einspänner durch den nun starken Verkehr. Er schien inzwischen wieder etwas nüchterner, denn seine Augen suchten konzentriert die Straße nach Gefahren und Hindernissen ab. Durch die zusätzliche Ladung hatte Lotte ganz ordentlich zu ziehen, und selbst das Pferd wirkte nun besonders aufmerksam.
Ben, seinerseits, war tief in Gedanken versunken. Er überdachte noch einmal die Geschehnisse dieses Morgens und suchte nach Möglichkeiten, Andrews Familie zu helfen. Er konnte weder Mrs.Goodman noch Father Duncan um Hilfe bitten. Beide würden nur darauf hinweisen, dass sie selbst Probleme und Geldsorgen genug hatten. Mr.Stendal brauchte er erst gar nicht zu fragen. Der alte Mann war zwar die Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft in Person, aber Ben wusste, dass er selbst kaum genug hatte, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Menschen, die eine Kutsche benötigten, hatten meist ein eigenes Gefährt, und der Rest ging schlicht zu Fuß. Im Jahre 1896 waren die Zeiten hart, für alle. Durch die Einführung mechanischer Webstühle
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