Berg der Legenden
Odell und ich es am Tag darauf erneut versuchen. Wenn wir Erfolg haben, werden wir uns längst auf dem Heimweg befinden, wenn Du diesen Brief öffnest. Vielleicht komme ich sogar vor dem Brief an – hoffen wir das Beste!
Ich habe das Gefühl, dass wahrscheinlich Finch und ich in diesem winzigen Zelt 8200 Meter über dem Meeresspiegel schlafen werden, obwohl es noch einen weiteren Mann gibt, der bislang noch jedes Mal mit uns Schritt gehalten hat.
Mein Liebling, ich schreibe Dir diesen Brief mit Deinem Bild neben mir …
Wieder einmal setzte Ruth sich zu ihren Töchtern auf den Teppich im Salon und stellte fest, dass Clare ihren Daumen bereits fest auf den Nordsattel gedrückt hatte.
***
»Sie hätten schon seit über einer Stunde zurück sein müssen.«
Odell sagte nichts, obwohl er wusste, dass George recht hatte. Sie standen draußen vor dem Gemeinschaftszelt, starrten zum Berg hinauf und wünschten, Norton, Somervell und Morshead würden wieder auftauchen.
Falls Norton und Somervell den Gipfel erreicht hatten, würde George nur bedauern, dass er sich nicht selbst für die erste Seilschaft eingeteilt hatte – obwohl er das niemals einem anderen Menschen außer Ruth gegenüber zugeben würde.
Er sah erneut auf die Uhr und beschloss, dass sie nicht länger warten konnten. Er wandte sich an den Rest der Mannschaft, die alle beklommen den Berg anstarrten. »Es wird Zeit, einen Suchtrupp zusammenzustellen. Wer kommt mit mir?«
Mehrere Hände flogen in die Höhe.
Kurz darauf waren George, Finch, Odell und Sherpa Nyima fertig ausgerüstet und bereit zum Aufbruch. Ohne ein weiteres Wort machte George sich an den Aufstieg. Ein beißend kalter Wind pfiff den Pass herunter, machte sich über ihre Haut her und bedeckte sie mit einer dünnen Schneekruste, die sofort auf ihren ausgetrockneten Wangen gefror.
Nie zuvor hatte George einem Feind gegenübergestanden, der entschlossener oder erbitterter gewesen wäre, und er wusste, dass niemand darauf hoffen konnte, unter diesen Bedingungen eine Nacht zu überleben. Sie mussten die anderen finden.
»Irrsinn, das hier ist nichts als Irrsinn!«, brüllte er dem Sturm entgegen, doch Boreas, der Gott des Nordwinds, beachtete ihn gar nicht und blies unbeirrt weiter.
Nach mehr als zwei Stunden unter den schlimmsten Wetterbedingungen, die George je erlebt hatte, konnte er kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Er wollte gerade den Befehl geben, zum Lager zurückzukehren, als Finch schrie: »Ich sehe drei kleine Lämmer, die sich verirrt haben, mäh, mäh, mäh!«
Vor ihnen, nahezu unsichtbar vor dem felsigen Hintergrund, konnte George gerade eben noch die drei vermissten Bergsteiger erkennen, die langsam den Berg heruntergeschwankt kamen. So schnell sie konnten, liefen die Männer des Rettungstrupps auf sie zu. Obwohl sie alle begierig darauf waren, zu erfahren, ob Norton und Somervell den Gipfel erreicht hatten, versuchte niemand, die drei zu befragen, so erschöpft sahen sie aus. Norton hielt eine Hand über sein rechtes Ohr, und George nahm den armen Burschen am Ellenbogen und führte ihn langsam vom Berg herunter. Er blickte über die Schulter und sah Somervell wenige Schritte hinter sich. Seine Miene verriet nicht das Geringste über das Gelingen oder Scheitern ihrer Mission. Schließlich schaute er zu Morshead, dessen Gesichts ebenso ausdruckslos blieb, während er vorwärtstaumelte.
Eine weitere Stunde verging, ehe das Lager in Sicht kam. Im trüben Zwielicht führte George die drei Bergsteiger in das Gemeinschaftszelt, wo Becher lauwarmen Tees auf sie warteten. Kaum hatte Norton das Zelt betreten, sackte er auf die Knie. Guy Bullock untersuchte sein erfrorenes Ohr. Es war schwarz und mit Blasen übersät.
Während Morshead und Somervell sich über die Flamme des Primus-Kochers beugten und versuchten, wieder aufzutauen, standen die übrigen Männer schweigend um sie herum und warteten darauf, dass einer von ihnen die Nachricht überbrachte. Somervell sprach schließlich als Erster, aber erst, nachdem er mehrere Schlucke mit Brandy verstärkten Tees getrunken hatte.
»Wir hätten heute Morgen keinen besseren Start haben können, nachdem wir das Zelt im Lager V aufgeschlagen hatten«, begann er, »aber nach etwa dreihundert Metern gerieten wir mitten in einen Schneesturm«, fügte er schwer atmend hinzu. »Meine Kehle war so verstopft, dass ich kaum noch Luft bekam.« Erneut hielt er inne. »Norton klopfte mir auf den Rücken, bis ich mich heftig übergab,
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