Berlin 1933-1945: Stadt und Gesellschaft im Nationalsozialismus (German Edition)
Diskriminierung und Verfolgung auf vielfache Weise mitgestalteten oder sich gegen diese auflehnten.
PROF. DR. HABIL WOLF GRUNER
(geb. 1960), Inhaber des Shapell-Guerin Chairs in Jewish Studies und Professor of History an der University of Southern California, Los Angeles.
Resümee
Die Vorstellung, soziale Randgruppen zu ihrem eigenen Schutz sowie dem der Gemeinschaft bewahren zu müssen, war bereits vor 1933 gesellschaftlich akzeptiert. Dennoch markierte der Nationalsozialismus einen Bruch in der Verfolgung von sozial deviantem Verhalten. Durch die Aushebelung der Persönlichkeitsrechte erreichte die Verfolgung »Asozialer« eine neue Qualität und Radikalität. Der autoritäre »Führerstaat« erlaubte eine neue Machbarkeitspolitik, die die Verantwortlichen in den kommunalen Wohlfahrtsämtern in Allmachtsphantasien schwelgen ließ. In Berlin ging die Verfolgung der »Asozialen« bis 1938 so gut wie ausschließlich auf die Initiative der städtischen Verwaltung – und hier insbesondere des Wohlfahrtsamtes – zurück. Ohne »Bewahrungsgesetz« war man allerdings auf eine enge Zusammenarbeit mit Justiz- und Polizeibehörden angewiesen. Hier war das Vorbild Hamburg, wo eine Bewahrung unter »rechtsschöpferischer« Auslegung der Gesetze schon vor 1933 praktiziert wurde. Die in Berlin ergriffenen Maßnahmen folgten zudem reichsweit zu beobachtenden Tendenzen: Pflichtarbeit, Bewahrung, Zwangssterilisation und die zunehmende Ausweitung des stigmatisierten Personenkreises gehörten hier wie in anderen Städten zum Standardrepertoire der »Asozialenbekämpfung«. Dennoch scheint man sich in Berlin als eine Art Laboratorium verstanden zu haben, in dem die Möglichkeiten des zu erlassenden Bewahrungsgesetzes ausgelotet und mustergültig umgesetzt wurden. Dafür spricht, dass sich Berlin mit seiner Verfügung zur »Unterbringung Asozialer im städtischen Arbeits- und Bewahrungshaus« von 1934 an die in der Vergangenheit geführten Debatten um das Bewahrungsgesetz anlehnte und zudem Spiewok seinen Entwurf zu einem »Bewahrungsgesetz« aus seiner Praxis heraus formulierte. Indem man Tatsachen schuf, hoffte man, in naher Zukunft den Berliner Maßnahmenkatalog auch auf den Rest des Reiches übertragen zu können. Mit dem zentralen Eingreifen der Polizei 1938, die daraufhin die Ausarbeitung eines »Gemeinschaftsfremdengesetzes« 81 von den Wohlfahrtsverbänden übernahm, verlor das »Modell Berlin« an Boden. Die hohen Belegungszahlen des Arbeits- und Bewahrungshauses 1941 zeigen jedoch,
dass die kommunalen Maßnahmen gegen »Asoziale« ihre Bedeutung als Mittel sozialrassistischer Disziplinierung keineswegs verloren.
Belegung und Bedeutung des Arbeits- und Bewahrungshauses während der Kriegszeit sowie insbesondere auch die Sterilisationspraxis der Berliner Anstalt sind bislang noch Forschungsdesiderate.
ELISABETH WEBER
(geb. 1980), Mitarbeiterin des Deutschen Historischen Museums, Berlin.
KRIEG
Bild 24
Unter Aufsicht eines Luftwaffenoffiziers müssen zwei KZ-Insassen in der typischen Sträflingskleidung nach einem Luftangriff eine Bombe ausgraben, die noch nicht explodiert ist. Da viele Bomben komplizierte Zeitzünder hatten, war dies eine äußerst gefährliche, oft todbringende Arbeit. Inmitten all der Zerstötung wirbt das an der Straßenbahn angebrachte Plakat der NSDAP für ein »Volksopfer«. Mit dieser Aktion sollten im Januar 1945 Ausrüstungsgegenstände für den sogenannten Volkssturm gesammelt werden. Die Bergung von Munition und Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg ist bis heute nicht abgeschlossen. Foto Gunnar Kosnick, 1945.
Resümee
Einerseits wusste die NS-Führung aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, dass sie den Krieg nur gewinnen konnte, wenn sie die Zivilbevölkerung so weit wie möglich für die Kriegführung einspannte. Andererseits fehlte ihr noch bei Kriegsausbruch eine klare Strategie, wie die gesellschaftliche Mobilisierung erreicht werden sollte. Alle durchgreifenden Maßnahmen standen zudem unter dem Vorbehalt, dass eine Überforderung der Zivilbevölkerung vermieden werden sollte, um die Einheit von Führung und Volk nicht zu gefährden und die Wiederholung eines »Dolchstoß«-Szenarios wie 1918 zu vermeiden. Das erklärt die Diskrepanz zwischen den vollmundigen Mobilisierungsappellen in den ersten beiden Kriegsphasen und den tatsächlichen Initiativen. Diese beschränkten sich bis Ende 1942 auf Kundgebungen, Appelle, Sammlungen und weitgehend erfolglose administrative
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