Berlin 1933-1945: Stadt und Gesellschaft im Nationalsozialismus (German Edition)
mit dem Ausbau der Staats- und Kriminalpolizeileitstellen in Berlin eine Systematisierung und gesellschaftsbiologische Ausweitung der Verfolgung an, der viele Tausend Berliner »Asoziale«, »Zigeuner« und Juden zum Opfer fielen. Die letzte Phase von 1939 bis 1945 brachte kaum noch strukturelle und personelle Veränderungen, sondern verstärkte den Bedeutungsverlust der regionalen SA, SS und Polizei. Personell wie strukturell erwies sich die Reichshauptstadt von 1933 bis 1939 als das wichtigste Experimentierfeld nationalsozialistischer Machtsicherung auf zentraler und regionaler Ebene.
DR. DES. STEFAN HÖRDLER
(geb. 1977), Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Washington, D.C.
Resümee
Seit 1933 waren die anfänglich rund 160 000 jüdischen Berliner der Verfolgungspolitik der NS-Regierung, den sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Diskriminierungen durch die Stadt sowie den Attacken der Parteiformationen ausgesetzt.
Für die städtische Politik, die im »Dritten Reich« die »Judenpolitik« vor Ort oft nachhaltiger radikalisierte als Straßengewalt oder nationale Gesetze, zeichneten in Berlin die deutschnationalen Oberbürgermeister Heinrich Sahm und Oskar Maretzky sowie die Nationalsozialisten Julius Lippert und Ludwig Steeg verantwortlich. Doch nicht nur sie, sondern auch Beamte fast aller städtischen Ämter trugen mit Initiativen zur Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung sowie zur Umsetzung von Reichsmaßnahmen bei. Bezirksbürgermeister entwarfen Maßnahmen, die als Muster für Gesamt-Berlin dienten, wie die Markierung von Parkbänken 1938 oder die Limitierung der Einkaufszeiten im Krieg. Lokale Ideen griffen Regierung und Ministerien wiederum für Politik und Gesetzgebung auf. Die Aktivitäten des Magistrats verstärkten zudem für viele Berliner den Anschein, dass jede Judenverfolgung legal sei. Die Maßnahmen des Magistrats und die wochenlangen organisierten Kollektivausschreitungen in den Sommern 1935 und 1938 dienten als Vorwand für individuelle Bereicherung und Gewalt, ob als Sachbeschädigung oder Angriff auf Personen.
Während Unzählige in der Stadtverwaltung und anderen lokalen Behörden, bei der Polizei und in den Parteiformationen direkt an der Verfolgung beteiligt waren, mussten sich auch alle anderen Berliner seit 1933 im Alltag ständig mit den Forderungen beziehungsweise den Folgen der Judenpolitik auseinandersetzen und dazu verhalten, sei es zu den bald überall aufgestellten Verbotsschildern, sei es wenn Kollegen ihre Arbeit verloren oder Bekannte Opfer von Diskriminierung und Gewalt wurden. In vielen, oft hitzigen Diskussionen über Verfolgungsnachrichten oder eigene Beobachtungen, ob privat oder in der Öffentlichkeit, wandten sich Berliner ungeachtet des Risikos, als Staatsfeind drakonisch bestraft zu werden, gegen diese Politik. Dass solche Kritik nicht 1933 oder 1935, sondern 1938 ihren Höhepunkt erreichte, widerspricht der bisherigen Annahme einer wachsenden Gleichschaltung der Öffentlichkeit im NS-Staat, ebenso dass manche Berliner trotz Tabuisierung weiter mit Juden verkehrten. Eine totale Segregation bestand nicht einmal im Krieg. Die Deportationen seit Herbst 1941 erwiesen sich als Lackmustest: Viele profitierten oder denunzierten, andere kritisierten die Transporte oder halfen Juden bei der Flucht. Das
Beispiel Berlin demonstriert somit plastisch Möglichkeiten und Grenzen des Regimes zur Kontrolle und Mobilisierung der Bevölkerung.
Während die Juden als Gemeinschaft lange brauchten, um zu verstehen, dass das NS-Regime kaum mit traditionellen Mitteln zu bekämpfen war, entwickelte jeder Einzelne vor dem Hintergrund der persönlichen sozialen Verhältnisse, der Beziehungen zu anderen Berlinern sowie der individuellen Verfolgungserfahrungen rasch eigene Reaktionen auf die teilweise dissonante Politik. Während sich Zehntausende Berliner zur Emigration entschlossen, andere auf Änderung hofften, widersetzten sich nicht wenige den Diskriminierungsmaßnahmen, manche protestierten noch im Krieg gegen die Verfolgung, viele flüchteten vor den Deportationen.
Die Untersuchung der Verhältnisse in der Hauptstadt des NS-Staates stellt somit sicher geglaubte Erkenntnisse in mehrerer Hinsicht infrage. Weder dominierten Indifferenz und Gleichschaltung das Verhalten bei den nichtjüdischen Berlinern, noch herrschte Passivität bei den jüdischen Berlinern. Die Berliner treten auf diese Weise als historische Akteure in Erscheinung, die
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