Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
die Flucht gelungen. So suchten stattdessen zwei ostdeutsche Feuerlöschboote mit Polizeieinheiten an Bord mehr als zwei Stunden lang die Spree ab, ehe drei Froschmänner der Armee Günters Leiche gegen 19 Uhr aus dem Wasser zogen.
Einen Tag nach Günters Tod stellten acht Geheimpolizisten die Wohnung seiner Mutter auf den Kopf, während diese den Tränen freien Lauf ließ. Die Polizisten rissen die Ofentür ab und zerlegten den Ofen. Sie schlitzten Matratzen auf und leerten Schubladen aus. Erst aus der Abendschau im Westberliner Fernsehen erfuhr Litfins Familie, dass man Günter auf der Flucht erschossen hatte. 6
Um die Familie noch härter zu bestrafen, erlaubten die Behörden es weder Günters Mutter noch seinem Bruder, den Leichnam vor der Beisetzung anzusehen, nicht einmal zur Identifizierung. An einem strahlenden Sommertag, am Mittwoch, dem 30. August, wurde Günter Litfin in einem geschlossenen Sarg auf dem Friedhof Weißensee in die Erde hinabgelassen. Jürgen sah sich zufrieden den polierten schwarzen Grabstein aus Granit an, den er ausgewählt hatte. Mit den Fingern fuhr er die goldene Inschrift nach: UNSER UNVERGESSENER GÜNTER.
Hunderte von Berlinern waren auf den Friedhof gekommen: Schulfreunde, Familienangehörige und Dutzende Menschen, die Günter überhaupt nicht gekannt hatten, aber durch ihre Anwesenheit ihr Mitgefühl bekunden wollten.
Obwohl so viele Menschen zusahen, brachte Jürgen es nicht übers Herz, seinen Bruder unter der Erde verschwinden zu lassen, ohne sicher zu wissen, dass er es wirklich war. Also sprang er in die Grube und brach mit einem Brecheisen den Sarg auf. Günters Hautfarbe war zwar dunkler als sonst, und ein Verband, der das Austrittsloch der Todeskugel verbarg, deckte einen breiten Streifen unter seinem Mund und über dem Hals ab, doch Jürgen hatte keinen Zweifel an der Identität.
Er sah auf und bedeutete seiner Mutter mit einem Nicken, dass es ihr Sohn war.
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Kinder in Ostberlin schauen über den niedrigen Stachel- draht nach West- berlin.
In den ersten Tagen nach dem 13. August stand Berlin gewissermaßen unter Schock. Die Stadt machte mehrere Kummerphasen durch: Leugnen, Unglauben, Frustration, Niedergeschlagenheit und schließlich Resignation. Die Reaktion der Berliner hing davon ab, wo sie sich aufhielten: im Osten oder im Westen.
Was die Westberliner betraf, ging die anfängliche Wut über die Kommunisten mittlerweile mit wachsendem Zorn über den Verrat der Amerikaner einher. Das Gesprächsthema der ganzen Stadt war der Umstand, dass die Amerikaner am 13. August keine einzige Einheit ausgesandt hatten, um ihre Solidarität zu demonstrieren, geschweige denn eine Sanktion gegen Ostdeutschland oder die Sowjetunion verhängt hatten.
Hingegen neigten die Ostberliner dazu, sich selbst zu verfluchen, weil sie die Gelegenheit zur Flucht verpasst hatten, vermischt mit einem tiefen Abscheu gegenüber den zynischen kommunistischen Staatschefs, die sie eingesperrt hatten. Mielkes allgegenwärtige Stasi-Spitzel hatten ihren Auftrag erfolgreich ausgeführt. Wer möglicherweise einen Aufstand in Erwägung gezogen hatte, wurde durch die ständige Observierung durch Stasi-Agenten in den Fabriken, den Mietshäusern und Schulen abgeschreckt. 7
AN DER GRENZE, BERNAUER STRASSE, OSTBERLIN
DIENSTAGNACHMITTAG, 15. AUGUST 1961
Nur etwas mehr als zwei Tage nach der Sperrung der Grenze begannen ostdeutsche Bauarbeiter mit einem Baukran, vorgefertigte Betonplatten auf der Bernauer Straße abzusetzen. Jede Platte war genau 1,25 Meter im Quadrat groß und 20 Zentimeter dick. Hunderte davon lagen in der Nähe auf einem Tieflader. Zufrieden, dass die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten vermutlich nichts unternahmen, um sein Vorhaben zu vereiteln, ging Ulbricht zur nächsten Phase über. Er hatte Bautrupps angewiesen, die behelfsmäßigen Grenzsperren an besonders heiklen Stellen durch eine dauerhaftere Konstruktion zu ersetzen. 8
CBS-Korrespondent Daniel Schorr begab sich eilends zur Bernauer Straße, um darüber zu berichten. »Wir bemerkten, dass Betonplatten aufgestellt wurden, als wollten sie eine Mauer bauen«, sagte er zögernd. Er verwendete als einer der Ersten das Wort »Mauer«, um das zu beschreiben, was letztlich die Berliner voneinander trennen sollte. Seiner unverkennbaren Baritonstimme hörte man an, wie ungläubig er das Geschehen verfolgte, als er es mit dem verglich, was die Nazis in Warschau errichtet hatten, um die Juden einzuschließen.
Schorr
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