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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
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zerlegt und in einzelnen Teilen transportiert.
    Noch ärgerlicher war, dass Günter Litfin in der Nacht, als die Stadt geteilt wurde, mit seinem Bruder Jürgen auf einer Einweihungsfeier in Westberlin gewesen war. Als sie kurz nach Mitternacht mit der S-Bahn heimfuhren, war ihnen nichts Ungewöhnliches aufgefallen.
    Erst am nächsten Morgen um 10 Uhr weckte Jürgen seinen Bruder, nachdem er die schlechte Neuigkeit im Radio gehört hatte: »Sämtliche Straßen sind geschlossen, und alles ist gesperrt«, sagte er zu Günter. 3 Die beiden Brüder dachten an den 17. Juni 1953, als Ulbricht die Berliner Grenze geschlossen hatte, nachdem die Sowjets mit Panzern den Arbeiteraufstand niedergeschlagen hatten. Nur wenige Tage danach war wieder Normalität eingekehrt, also vermuteten sie, dass es diesmal ähnlich sein würde. Selbst nach der Berliner Luftbrücke von 1948/49 waren die Stadtgrenzen offen geblieben. Die Litfins konnten sich anfangs nicht vorstellen, dass die Amerikaner es zuließen, dass die Grenze dauerhaft geschlossen wurde, bei allem, was hier auf dem Spiel stand. Die Brüder hatten zwar ihre Zweifel an der britischen und französischen Garantie der Freiheit Berlins gehabt, aber sie hatten immer geglaubt, dass die Amerikaner durchbrechen würden.
    Die beiden schwangen sich auf die Fahrräder, um die neuen Gegebenheiten zu inspizieren. Sie machten bei Günters üblichem Grenzübergang an der Bornholmer Brücke halt, wo eine zweispurige Schnellstraße mehrere Eisenbahngleise
überquerte. Die Polizei hatte das Pflaster mit Stacheldraht und Panzerfallen blockiert. Günter konnte einfach nicht glauben, dass das so bleiben würde.
    Aber mit jedem Tag wuchs die Überzeugung der Brüder, dass die Amerikaner sie nicht retten würden. Die Kommunisten fingen bereits an, die notdürftigen Straßensperren aus Spanischen Reitern und Stacheldraht durch eine drei Meter hohe Mauer zu ersetzen, die aus vorgefertigten Betonteilen und Mörtel errichtet wurde. Ulbricht machte zügig alle Schlupflöcher dicht. Deshalb beschloss Günter, die Flucht zu wagen, bevor es zu spät war. 4
    Aufmerksam verfolgte er die Meldungen des RIAS über die vielen Fluchtversuche, die seit dem 13. August gelungen waren. Gut hundertfünfzig Ostdeutsche waren seither durch den Teltowkanal in die Freiheit geschwommen, viele sogar mit Kindern im Schlepptau. Bei einer Aktion hatte ein ganzes Dutzend Teenager den Kanal in einem Wettrennen durchschwommen. Ein junger Mann war mit seinem Volkswagen einfach durch den Stacheldraht an der Grenze gefahren und hatte unbeschadet den französischen Sektor erreicht. Ein anderer mutiger Ostberliner hatte einer Grenzwache einfach die Maschinenpistole abgenommen und war dann mit der Waffe über die Grenze gerannt. 5
    Von diesen Erfolgen ermutigt, beschloss Litfin zu handeln, obwohl er einen Herzfehler hatte. Kurz nach 16 Uhr überquerte Günter Litfin am Donnerstag, dem 24. August, bei helllichtem Tag ein Bahngelände, das zwischen dem Bahnhof Friedrichstraße im Osten und dem Lehrter Bahnhof im Westen lag. Mit einer dünnen braunen Jacke und einer schwarzen Hose bekleidet, sprang er beim Humboldthafen in das warme Wasser der Spree. Günter war kein besonders guter Schwimmer, aber er nahm an, dass er die knapp 40 Meter Wasser, die ihn von der Freiheit trennten, schaffen würde.
    Von einer nahe gelegenen Brücke aus forderte ein Transportpolizist (Trapo) Günter fünfmal auf anzuhalten. Doch der Schneider schwamm nur umso kraftvoller. Der Beamte gab zwei Warnschüsse ab, die oberhalb von Günters Kopf das Wasser trafen. Als Litfin weiterschwamm, feuerte der Trapo eine ganze Salve auf ihn ab. Die ersten Kugeln trafen den Schneider, als er nur noch 10 Meter vom Ufer entfernt war.
    Der verwundete Günter fuchtelte mit den Armen und tauchte, um weiteren Schüssen von mittlerweile drei Polizisten auszuweichen. Als er auftauchte, um Luft zu holen, und sich mit erhobenen Armen ergeben wollte, riefen die Trapos ihm Schimpfworte zu. Ein Schuss durchschlug seinen Hals, und Günter ging wie ein Stein unter.

    Günter Litfin war das erste Opfer, das beim Versuch, Ostberlin zu verlassen, erschossen wurde – ein Opfer des schlechten Timings. Was er nicht gewusst haben konnte, war der Umstand, dass die Polizei am selben Morgen zum ersten Mal die Erlaubnis erhalten hatte, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, um all jene aufzuhalten, die »Republikflucht« begehen wollten. Wäre Litfin einen Tag früher in den Kanal gesprungen, wäre

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