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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
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hatte, um den Bau der Mauer zu beobachten. Wie er da an der Ruppiner Straße im Westen
stand, hatte Leibing durch seine Linse Conrad Schumann fest im Blick, der an einem Gebäude im Osten lehnte und eine Zigarette rauchte. Einige Leute sagten zu Leibing, sie hätten Schumann beobachtet, wie er mehrmals an den Stacheldrahtverhau herangetreten sei und jedes Mal den Draht ein Stück weiter nach unten gedrückt habe, um den Widerstand zu prüfen.
    Je mehr Zuschauer zusammenliefen, dachte Schumann bei sich, desto größer war seine Erfolgschance, weil die Wahrscheinlichkeit dann geringer war, dass seine Kollegen bei der Flucht auf ihn schossen. Schumann brüllte einen jungen Westberliner, der sich der Grenze näherte, an, er solle zusehen, dass er wegkomme. Aber dann flüsterte er demselben Mann zu: »Ich werde gleich springen.«
    Der junge Mann rannte weg, und kurze Zeit später fuhr ein westliches Polizeiauto so nahe heran, wie es ging, ohne Verdacht zu erregen. Leibing stellte seine Linse auf den Punkt im Stacheldraht ein, die Schumann mehrmals getestet hatte. Er hielt es für eine Ironie der Geschichte, dass er ausgerechnet eine ostdeutsche Kamera benutzte: eine Exakta. Je länger er wartete, umso mehr hatte Leibing den Eindruck, dass Schumann den Mut verloren habe oder dass er nie springen würde.
    Gegen 16 Uhr sah Schumann, wie zwei seiner Kollegen um die Ecke gingen und außer Sicht waren. Er schnippte die Zigarette weg, rannte los, sprang ab und setzte mit dem rechten Stiefel oben auf dem Drahtverhau auf. Er drückte ihn so weit ein, dass er sich abstoßen konnte, aber nicht im Stacheldraht hängen blieb. Beim Sprung ließ er mit der Rechten die Kalaschnikow fallen, zugleich streckte er die Linke aus, um das Gleichgewicht zu halten. Der jubelnden Menge kam es so vor, als breite er Flügel zum Abheben aus. Sein Stahlhelm saß fest auf dem Kopf, als er den Hals einzog. Wie ein Hürdenläufer landete er mit dem linken Fuß und lief mit ebenso langen Schritten los, bis zur offenen Tür des Polizeiautos, einem Opel Blitz.
    Mit seiner Erfahrung beim Fotografieren vom Springreiten drückte Leibing im richtigen Moment den Auslöser und erwischte den Soldaten im Flug genau über dem Hindernis unter ihm. Mit dem manuellen Verschluss der Kamera hatte er nur eine Aufnahme, aber das reichte für ein denkwürdiges Foto.
    »Willkommen im Westen, junger Mann«, sagte ein Westberliner Polizeibeamter zu dem zitternden, stillen Schumann. Dann brach der Soldat zusammen. Die Tür wurde zugeschlagen, und das Auto raste davon. Es war ein kurzer Triumph. 13
    Nach einer Woche war Ulbricht so fest überzeugt, dass Kennedy nicht
eingreifen würde, dass er am 22. August begann, den Mauerbau auf mehrere Stellen auszuweiten. Der 13. August ging zwar als Geburtsdatum der Berliner Mauer in die Geschichte ein, aber in Wirklichkeit wuchs sie nur langsam in den folgenden Tagen, sobald die Kommunisten sicher sein konnten, dass sie nicht mit Widerstand rechnen mussten.
    Bild 60
    Ein gewagter Sprung: Der DDR-Grenzsoldat Conrad Schumann springt über den Stacheldraht in die Freiheit und wirft dabei sein Gewehr weg.
    RATHAUS SCHÖNEBERG, WESTBERLIN
MITTWOCH, 16. AUGUST 1961, 16:00 UHR
    Willy Brandt war vor einer Rede noch nie so aufgeregt gewesen.
    Als er vor dem Rathaus Schöneberg stand, blickte er auf 250 000 wütende Berliner hinab und wusste, dass es schwierig sein würde, den richtigen Ton zu treffen. Er musste den Zorn kanalisieren, durfte die Leute allerdings nicht so
sehr aufhetzen, dass sie womöglich die Grenze stürmten und dabei niedergeschossen wurden.
    Er wusste auch genau, dass dieser kritische Augenblick eine große Chance für seinen Wahlkampf war. In nur einem Monat standen die Bundestagswahlen an, und Brandt wollte beweisen, dass er wirkungsvoller die Interessen der Deutschen verteidigen konnte als der altersschwache Kanzler Adenauer, der mit seinen amerikanischen Freunden nichts unternommen hatte, um die Grenzschließung zu stoppen, geschweige denn um sie aufzuheben. Adenauer hatte Brandts Einladung zu der Kundgebung abgelehnt und seit dem 13. August Berlin nicht betreten.
    Bislang hatte Adenauer dem Druck seiner Partei und der Öffentlichkeit standgehalten, nach Berlin zu fahren, mit der Begründung, sein Auftritt könnte, wie er sagte, politische Unruhen auslösen und falsche Hoffnungen wecken. Was er nicht sagte, war, dass sein Besuch nur seine Ohnmacht unterstreichen würde. Darüber hinaus wollte Adenauer den Sowjets auf

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