Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
müssen, hatten keine Lust, sich diese schlimmen Ereignisse ins Gedächtnis zurückzurufen. Und die Berliner Männer wollten auf keinen Fall daran erinnert werden, dass sie damals ihre Frauen und Töchter nicht hatten schützen können. Der Beginn des Jahres 1961 war im sowjetisch besetzten Ostdeutschland und in Ostberlin eine Zeit des gewollten Vergessens und der Gleichgültigkeit gegenüber der Vergangenheit. Tatsächlich gab es auch wenig Grund, sich mit einer Geschichte auseinanderzusetzen, die man einerseits nicht mehr ändern konnte, andererseits aber auch noch nicht zu verdauen vermochte.
Eigentlich hätte diese Reaktion Hillers nicht überraschen dürfen. Immerhin empfand auch sie selbst noch so viel Scham angesichts des Geschehenen, dass sie ihre Erinnerungen »Eine Frau in Berlin« nur mit dem Pseudonym Anonyma signierte. Sie veröffentlichte
sie auch erst nach ihrer Heirat, als sie in die neutrale Schweiz gezogen war. Das Buch durfte in der DDR weder verkauft noch besprochen werden. Nur einige wenige Exemplare wurden in Koffern in den kommunistischen Osten geschmuggelt. Aber auch in Westberlin verkauften sich Anonymas Memoiren nur sehr schlecht. In Besprechungen warf man ihr entweder antikommunistische Propaganda vor, oder man beschuldigte sie, die Ehre der deutschen Frau zu beschmutzen. Sie selbst hätte auf diesen Vorwurf wohl geantwortet, dass dies sowjetische Soldaten bereits lange vor ihr erfolgreich erledigt hätten.
Eine solche Rezension, die bezeichnenderweise ganz hinten im Westberliner »Tagesspiegel« auf Seite 35 erschien, trug die Überschrift: »Schlechter Dienst an der Berlinerin / Bestseller im Ausland – Ein verfälschender Sonderfall«. 25 Besonders irritiert zeigte sich der Rezensent, der der Verfasserin »schamlose Unmoral« vorwarf, von dem kompromisslosen Erzählstil des Buches, der den Zynismus der ersten Nachkriegsmonate treffend widerspiegelte. Urteile wie dieses im »Tagesspiegel« bewegten Hillers dazu, anonym zu bleiben und jede Neuauflage des Buches zu ihren Lebzeiten zu verbieten. Im Jahr 2001 starb sie im Alter von neunzig Jahren.
Sie sollte also nie erfahren, dass ihr Buch nach ihrem Tod neu aufgelegt wurde und in mehreren Sprachen ein Bestseller war. Im Jahr 2003 erschien es im deutschen Original. 26 Sie würde auch nie die Genugtuung haben können, dass ihre Geschichte im Jahr 2008 in einem deutschen Spielfilm (Anonyma – Eine Frau in Berlin) erzählt wurde und ihr Schicksal heute Feministinnen in der ganzen Welt rührt.
Im Jahr 1961 sorgte sich Hillers dagegen mehr darum, den Reportern zu entgehen, die sie mithilfe der wenigen konkreten Hinweise auf ihre Person in ihrem Bericht aufspüren wollten. So war ihrem Buch zu entnehmen, dass sie 1945 eine Journalistin in den Dreißigern war, im Bezirk Tempelhof gelebt und genug Zeit in der Sowjetunion verbracht hatte, um etwas Russisch zu sprechen. Sich selbst beschrieb sie als »blasse Blondine, stets im selben zufällig geretteten Wintermantel«. 27 Tatsächlich gelang es niemandem, sie zu identifizieren.
Trotzdem gibt es keine bessere Illustration der damaligen deutschen Einstellung gegenüber den Besatzern als den Inhalt von Hillers’ Buch und die Weigerung der Berliner, dieses zu lesen. Die Beziehung der Ostdeutschen zu ihren sowjetischen Besatzungstruppen, deren Zahl im Jahr 1961 immerhin noch vier- bis fünfhunderttausend betrug, war eine Mischung aus Mitleid und Furcht, gleichgültiger Selbstgefälligkeit und Amnesie. Die meisten Ostdeutschen hatten sich mit deren anscheinend dauerhaften Anwesenheit abgefunden. Viele von denen, die dies nicht vermochten, waren in den Westen geflohen.
Das Mitleid der Ostdeutschen mit ihren sowjetischen Besatzern, denen sie sich kulturell überlegen glaubten, beruhte auf dem, was sie alltäglich mit eigenen Augen beobachten konnten: unterernährte, ungewaschene Teenager in schmutzigen Uniformen, die
die halb gerauchten Kippen, die die Deutschen gerade weggeworfen hatten, vom Boden auflasen oder ihre Orden und ihr Benzin gegen jede Form von trinkbarem Alkohol eintauschten, der ihnen half, ihre armselige Existenz für kurze Zeit zu vergessen. 28
Dieses Mitleid wurde vom gelegentlichen Alarm noch weiter verstärkt, der bei allen Desertionsversuchen sofort ausgerufen wurde. Immer wieder konnten einige halbwüchsige Soldaten die Brutalität der Offiziere, die Schikanen ihrer älteren Kameraden und die kalten und überfüllten Unterkünfte einfach nicht mehr ertragen.
Ihre im Dritten
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