Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Reich oder noch früher erbauten Kasernen waren jetzt mit dreimal so vielen Soldaten vollgestopft wie noch zu alten deutschen Zeiten. Am Silvestertag des Jahres 1957 brach in Falkenberg eine Kasernenrevolte aus, in deren Rahmen vier Soldaten nach Westberlin flohen und sowjetische und ostdeutsche Suchtrupps an der Berliner Grenze entlangpatrouillierten. 29 Man erzählte sich, dass sowjetische Truppen Scheunen und Ställe angezündet hätten, in denen sich Deserteure versteckt hielten. Dabei seien sowohl diese geflohenen Soldaten als auch die Tiere bei lebendigem Leib verbrannt.
Dies alles verstärkte die tief sitzende Angst der Deutschen vor den Russen noch weiter.
Dazu hatten allerdings zuvor auch die Ereignisse vom 17. Juni 1953 30 beigetragen, als sowjetische Truppeneinheiten und Panzer einige Zeit nach Stalins Tod einen Arbeiteraufstand niedergeschlagen hatten, der den jungen ostdeutschen Staat bis in seine schwachen Grundmauern erschütterte. Dabei waren bis zu 300 Ostdeutsche zu Tode gekommen und weitere 4270 verhaftet worden.
Die tieferen Gründe dieser ostdeutschen Ängste wurzelten jedoch in den schmerzlichen Erfahrungen, die Hillers so genau beschrieben hatte. Es gab ja einen Grund, warum Ostberliner Frauen erstarrten, wann immer ein sowjetischer Soldat an ihnen vorbeiging oder Walter Ulbricht im Radio die immerwährende Freundschaft mit dem sowjetischen Volk beschwor.
Hillers beschrieb auch, warum Außenstehende so wenig Mitgefühl für das Leiden der deutschen Frauen empfanden – und warum sich so viele Deutsche fragten, ob ein rächender Gott sie nicht durch diese Vergewaltigungen für ihre eigenen Missetaten bestrafte. Noch in den ersten Besatzungstagen schrieb Hillers: »Unser deutsches Unglück hat einen Beigeschmack von Ekel, Krankheit und Wahnsinn, ist mit nichts Historischem vergleichbar. Soeben kam durchs Radio wieder eine KZ-Reportage. Das Grässlichste bei all dem ist die Ordnung und Sparsamkeit: Millionen Menschen als Dünger, Matratzenfüllung, Schmierseife, Filzmatte – dergleichen kannte Aischylos doch nicht.« 31
Hillers war auch fassungslos über die Dummheit der Naziführer, die angeordnet hatten, Schnaps für die anrückenden Sowjettruppen zurückzulassen. Sie glaubten tatsächlich, dass betrunkene Soldaten weniger gefährlich seien. Hillers machte dagegen klar, dass die
Berliner Frauen ohne »den vielen Alkohol, den die Burschen überall bei uns fanden«, nur halb so viele Vergewaltigungen hätten erleiden müssen. »Casanovas sind diese Männer nicht«, sie mussten also erst einmal ihre »Hemmungen wegschwemmen«. 32
Mit der für sie charakteristischen Ausdruckskraft beschrieb sie dann eine der vielen »Schändungen«, die sie endgültig dazu brachte, sich einen Beschützer unter den russischen Soldaten zu suchen:
Der mich treibt, ist ein älterer Mensch mit grauen Bartstoppeln, er riecht nach Schnaps und Pferden.
. . . Kein Laut. Bloß als das Unterzeug krachend zerreißt, knirschen unwillkürlich die Zähne. Die letzten heilen Sachen.
Auf einmal Finger an meinem Mund, Gestank von Gaul und Tabak. Ich reiße die Augen auf. Geschickt klemmen die fremden Hände mir die Kiefer auseinander. Aug in Auge. Dann lässt der über mir aus seinem Mund bedächtig den angesammelten Speichel in meinen Mund fallen.
Erstarrung. Nicht Ekel, bloß Kälte. Das Rückgrat gefriert, eisige Schwindel kreisen um den Hinterkopf. Ich fühle mich gleiten und fallen, tief, durch die Kissen und die Dielen hindurch. In den Boden versinken – so ist das also.
Wieder Aug in Auge. Die fremden Lippen tun sich auf, gelbe Zähne, ein Vorderzahn halb abgebrochen. Die Mundwinkel heben sich, von den Augenschlitzen strahlen Fältchen aus. Der lächelt.
Er kramt, bevor er geht, etwas aus seiner Hosentasche, schmeißt es stumm auf den Nachttisch, rückt den Sessel beiseite, knallt hinter sich die Tür zu. Das Hinterlassene: eine verkrumpelte Schachtel mit etlichen Papyrossen darin. Mein Lohn.
Als ich aufstand, Schwindel, Brechreiz. Die Lumpen fielen mir auf die Füße. Ich torkelte durch den Flur ... ins Bad. Erbrechen. Das grüne Gesicht im Spiegel, die Brocken im Becken. Ich hockte auf der Wannenkante, wagte nicht nachzuspülen, da immer wieder Würgen und das Wasser im Spüleimer so knapp. 33
In diesem Moment fasste Marta Hillers einen Entschluss. Sie richtete sich etwas her und ging hinunter auf die Straße, um sich einen »Wolf« zu erjagen, einen höheren sowjetischen Offizier, der sie künftig
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