Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Komplimenten und dem Krimsekt milde gestimmt, gab Kroll – der sich gelegentlich zu Kommentaren verleiten ließ, die von der offiziellen Linie abwichen – zu, dass der Sowjetführer, was Berlin angehe, eine bemerkenswerte Geduld gezeigt habe. Er warnte Chruschtschow jedoch: »Falls die Sowjetunion eine eigenmächtige Aktion in der Berlin-Frage unternimmt, wird dies zu einer internationalen Krise führen.« 23 Dann sei selbst ein militärischer Konflikt mit den USA und dem Westen möglich.
Chruschtschow widersprach. Der Westen werde sich zwar »erst einmal ein wenig aufregen, aber nach kurzer Zeit wieder beruhigen. Kein Mensch in der Welt wird wegen einer Krise um Berlin oder um die deutsche Frage Krieg führen.« Da er wusste, dass Kroll den Inhalt dieses Gesprächs auch seinen Vorgesetzten und den Amerikanern mitteilen würde, fügte er dann noch hinzu, dass er eine Verhandlungslösung einseitigen Aktionen vorziehen würde. Er betonte jedoch auch: »Das wird von Kennedy abhängen.«
Um 4 Uhr morgens beendete Chruschtschow das Treffen und führte dann Kroll, Kossygin und Mikojan durch die immer noch tanzende Menge zum Ausgang. Alle Anwesenden verstummten, während sie für die vier eine Gasse bildeten.
Selbst ein solch erfahrener Diplomat wie Kroll wusste nie, welche von Chruschtschows häufigen Drohungen man ernst nehmen musste. Die Art, wie Chruschtschow an diesem Abend die Berlin-Frage angesprochen hatte, überzeugte ihn jedoch, dass es im kommenden Jahr darüber eine ernste Auseinandersetzung geben würde. Er würde diese Ansicht an Adenauer und damit auch an die Amerikaner weiterleiten. Eines war Kroll vollkommen klar: Chruschtschow hatte entschieden, dass die Risiken einer weiteren Untätigkeit die Gefahren auch einseitiger Aktionen überstiegen.
Ob dieses nächste Jahr jedoch von Kooperation oder Konfrontation geprägt wäre, hing letztendlich davon ab, wie Chruschtschow mit dem Dilemma umgehen würde, das die Berlin-Frage für seine eigene Politik darstellte.
Einerseits war er sich weiterhin sicher, dass er sich keine bewaffnete Auseinandersetzung oder gar einen Krieg mit den Amerikanern leisten konnte. Er wollte unbedingt eine friedliche Koexistenz mit den Vereinigten Staaten erreichen. Und so streckte er dem neuen amerikanischen Präsidenten die Hand entgegen in der Hoffnung, mit ihm eine geeignete Lösung für Berlin aushandeln zu können.
Andererseits bewies Chruschtschows Unterredung mit dem westdeutschen Botschafter Kroll auch, dass der Druck auf ihn ständig stieg, sein Berlin-Problem zu lösen, bevor dieses zu einer umfassenden Bedrohung des Sowjetimperiums und zunächst einmal seiner eigenen Führungsstellung wurde.
Aus diesem Grund war Chruschtschow ein Kommunist, der es eilig hatte.
Dabei gab es für ihn noch ein weiteres Berlin-Problem: die Berliner selbst. Sie verachteten ihn, verabscheuten alle sowjetischen Soldaten und wollten sie als Besatzer endlich loswerden. Ursache hierfür waren nicht zuletzt ihre Erinnerungen an die schlimmen Ereignisse am Ende des Kriegs.
Marta Hillers’ Vergewaltigungsgeschichte
IRGENDWO IN DER SCHWEIZ
JANUAR 1961
Marta Hillers hatte nur einen einzigen Trost: Sie hatte sich geweigert, ihren Namen unter das außergewöhnliche Manuskript zu setzen, in dem sie akribisch die sowjetische Eroberung Berlins im kalten Frühling des Jahres 1945 geschildert hatte. In dieser Zeit war ihr Leben wie das von zehntausenden anderer Berliner Frauen und Mädchen zu einem einzigen Albtraum voller Angst, Hunger und Vergewaltigung geworden.
Zum ersten Mal im Jahr 1959 in Deutschland veröffentlicht, ließ das Buch einige der schlimmsten Kriegsgräuel der modernen Militärgeschichte wiederaufleben. Nach Schätzungen, die auf Krankenhausunterlagen beruhen, wurden in den letzten Kriegstagen und in den ersten Tagen der sowjetischen Besatzung zwischen 90 000 und 130 000 Berlinerinnen vergewaltigt. Zehntausende weitere erlitten dieses Schicksal in der übrigen sowjetischen Besatzungszone. 24
Hillers hatte erwartet, ihr Buch würde von einem Volk begrüßt werden, das die Welt wissen lassen wollte, dass auch seine Mitglieder zu Kriegsopfern geworden waren. Stattdessen hatten die Berliner darauf entweder mit Ablehnung oder mit Schweigen reagiert. Die Welt empfand immer noch wenig Mitgefühl für das Leid irgendwelcher Deutschen, die zu einem Volk gehörten, das so viel Unheil über die Menschheit gebracht hatte. Die Berliner Frauen, die diese Erniedrigung hatten erdulden
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