Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
allenfalls dem Bundeskanzler gebührte. Er forderte Kennedy auf, einen neuen »Drei-Mächte-Status« für Westberlin zu proklamieren, der die Sowjets ausschloss. Kennedy sollte die Berlin-Frage vor die Vereinten Nationen bringen, weil die Sowjetunion »in eklatanter Weise die Erklärung der Menschenrechte verletzt« habe. Schließlich wäre es zu begrüßen, so Brandt, »wenn die amerikanische Garnison demonstrativ eine gewisse Verstärkung erfahren könnte«.
Brandt schloss den Brief mit den Zeilen: »Ich schätze die Lage ernst genug ein, um Ihnen, verehrter Herr Präsident, mit dieser letzten Offenheit zu schreiben, wie sie nur unter Freunden möglich ist, die einander voll vertrauen.« Er unterschrieb mit: »Ihr Willy Brandt«. 23
Kennedy schäumte vor Wut. Der Brief war politisches Dynamit. Da der amerikanische Präsident sich bereits den Vorwurf hatte gefallen lassen müssen, er habe in Kuba, Laos und Wien Schwäche gezeigt, hielt er das für Salz in eine offene Wunde streuen. Die letzte Zeile, in der Brandt auf seine Vertrauensbeziehung zu dem Präsidenten anspielte, brachte Kennedy am meisten auf.
»Vertrauen?« Kennedy spuckte das Wort aus, als er wütend den Brief seinem Pressesprecher Pierre Salinger unter die Nase hielt. »Ich vertraue dem Mann ganz und gar nicht! Er steckt mitten im Wahlkampf gegen den alten Adenauer, und jetzt will er mich reinziehen. Wie kommt er dazu, mich Freund zu nennen?« 24
Das US-Außenministerium und das Weiße Haus waren empört darüber, dass Brandt die Existenz des Briefes auf einer Kundgebung bekanntgegeben hatte, bevor Kennedy den Brief überhaupt erhalten hatte — und so seinen spektakulären Wahlkampfauftritt bekam. Regierungsvertreter instruierten die Presse entsprechend und lösten damit einen Sturm negativer Kommentare in den US-Medien aus. Die Washingtoner Daily News nannte Brandts Brief »grob und anmaßend«. Der Kommentator William S. White des Washington
Evening Star bezeichnete Brandt abschätzig als »einfachen Bürgermeister«, der versuche, »die Außenpolitik nicht nur seines eigenen Landes zu übernehmen, sondern des ganzen Westens, indem er sich persönlich an den Präsidenten der Vereinigten Staaten wandte. […] Es ist ein leichtes Spiel für Demagogen, aufgebrachte Menschenmengen aufzuhetzen, wie Herr Brandt es tut, um den Westen wegen seiner Untätigkeit mit Spott zu überschütten.« 25
Brandt beanspruchte später für sich das Verdienst, mit seinem Brief Kennedy zu einer aktiveren Verteidigung Berlins verleitet zu haben, aber entscheidender war vermutlich die Journalistin Marguerite Higgins. Kennedy hatte ihr voller Empörung den Brief gezeigt, während er in seinem Schaukelstuhl im Oval Office saß. Die bekannte Kriegsreporterin, die sowohl über den Zweiten Weltkrieg als auch über den Korea-Krieg berichtet hatte, war eine persönliche Freundin des US-Präsidenten. »Mr President«, antwortete sie, »ich will Ihnen ganz offen sagen: In Berlin wächst der Verdacht, dass Sie die Westberliner verkaufen wollen.« 26
Allmählich erkannte Kennedy, dass er rasch etwas unternehmen musste, um den Berlinern ebenso wie den Amerikanern und Sowjets zu versichern, dass er immer noch bereit war, dem Kreml die Stirn zu bieten. Zwei Tage nach Eingang von Brandts Brief antwortete Kennedy dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, dass er die Absicht habe, Vizepräsident Lyndon B. Johnson und General Lucius D. Clay, den Helden der Berliner Luftbrücke und ein Freund der Reporterin Higgins, nach Berlin zu schicken.
Er würde zwar Brandts Rat befolgen , mehr Truppen nach Berlin zu entsenden, stellte aber in seinem Brief klar , dass nicht Brandt ihn zu dieser Entscheidung veranlasst habe. »Nach sorgfältiger Überlegung«, schrieb er Brandt, »habe ich selbst beschlossen, dass eine wesentliche Verstärkung der westlichen Garnisonen die beste Sofortreaktion ist.«
Das Entscheidende daran sei jedoch nicht die Zahl der Truppen, die eher gering ausfallen werde, sondern die Tatsache, dass man jede Verstärkung als die amerikanische Antwort auf Moskaus Forderung eines vollständigen Truppenabzugs aus Berlin werten werde. »Wir glauben, dass selbst eine bescheidene Verstärkung unsere Zurückweisung dieses Gedankens unterstreichen wird.«
Die anderen Vorschläge Brandts lehnte Kennedy jedoch ab. Der Gedanke eines Drei-Mächte-Status für Westberlin werde die Vier-Mächte-Basis für einen alliierten Protest gegen die Grenzschließung schwächen, erklärte er. Auch
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