Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
die Idee, sich an die Vereinten Nationen zu wenden, verwarf er, weil sie derzeit »kaum erfolgversprechend« sei. »So ernst diese Angelegenheit auch ist«,
schrieb er, »so stehen uns doch, wie Sie sagen, keine Maßnahmen zur Verfügung, die in der derzeitigen Situation eine wesentliche Änderung der Sachlage bewirken können. Da dieses brutale Schließen der Grenze ein deutliches Bekenntnis des Versagens und der politischen Schwäche darstellt, bedeutet dies offensichtlich eine grundlegende sowjetische Entscheidung, die nur durch Krieg rückgängig gemacht werden könnte. Weder Sie noch wir noch irgendeiner unserer Verbündeten haben jemals angenommen, dass wir an diesem Punkt einen Krieg beginnen müssten.«
Nach Kennedys Logik war der sowjetische Schritt »für unangemessene Reaktionen zu ernst«. Durch diese Maßnahme erschien ihm jede Aktion unterhalb der Ebene eines Kriegs als unzureichend, und deshalb lehnte er alle Empfehlungen, auch »die meisten der in Ihrem Brief gemachten Vorschläge«, ab.
Dem Regierenden Bürgermeister warf Kennedy einen Knochen hin, der ihn nichts kostete, und unterstützte dessen Idee »einer angemessenen Volksentscheidung, durch die bewiesen wird, dass Westberlin nach wie vor davon überzeugt ist, dass sein Schicksal in einer Freiheit in Verbindung mit dem Westen liegt«. 27
Brandt las Kennedys Antwort mit Enttäuschung und hatte damals das Gefühl, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, jemand habe »den Vorhang weggezogen und eine leere Bühne gezeigt«. 28 Amerikanische Reporter schrieben mit dem Selbstvertrauen der gut informierten Insider, dass die Grenzschließung Kennedy geschockt und deprimiert habe. Dabei sah die Wirklichkeit etwas anders aus.
Vor seinen engsten Vertrauten machte Kennedy keinen Hehl aus seiner Erleichterung. Er betrachtete die Schließung der Grenze als einen potenziell positiven Wendepunkt, der dazu beitragen könnte, die Berlin-Krise zu beenden, die wie ein nukleares Damoklesschwert über ihm gehangen hatte. In seinen Augen bewies die Tatsache, dass man Westberlin nicht angerührt hatte, die Grenzen von Chruschtschows Ambitionen – und die relative Zurückhaltung, mit der er sie verfolgte.
»Warum hätte Chruschtschow eine Mauer bauen lassen sollen, wenn er wirklich die Absicht hätte, Westberlin einzunehmen?«, sagte Kennedy zu seinem Freund und Vertrauten Kenny O’Donnell. »Es wäre doch nicht nötig gewesen, eine Mauer zu bauen, wenn er die ganze Stadt besetzen wollte. Das ist sein Ausweg aus einer Zwangslage. Es ist keine besonders angenehme Lösung, aber eine Mauer ist verdammt viel besser als ein Krieg.« 29
Der Schritt der Kommunisten gestattete es Kennedy ferner, das Ansehen
der USA in der ganzen Welt aufzubessern. Der kommunistische Feind war gezwungen gewesen, eine Mauer um sein Volk zu bauen, um die eigenen Leute einzusperren. Kaum etwas hätte eine verheerendere Wirkung erzielen können. Man konnte sich kein besseres Argument zugunsten der freien Welt vorstellen, selbst wenn dieser Schritt die Freiheit der Ostberliner und ganz allgemein der Osteuropäer kostete.
Kennedy hielt sich für einen Pragmatiker, und die Osteuropäer konnten sich derzeit ohnehin keine vernünftige Hoffnung auf Befreiung machen.
Für die Ostdeutschen hatte Kennedy wenig Sympathie und sagte dem Journalisten James »Scotty« Reston, dass die Vereinigten Staaten ihnen reichlich Zeit gegeben hätten, aus ihrem Gefängnis auszubrechen, weil die Berliner Grenze seit der Gründung der Sowjetischen Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum 13. August 1961 offen gewesen sei. 30
In den ersten Tagen nach dem Beginn des Mauerbaus kam eine ähnliche Bemerkung Kennedys dem Botschafter der Bundesrepublik in Washington, Wilhelm Grewe, und Kanzler Konrad Adenauer zu Ohren: »Immerhin haben die Ostdeutschen mehr als fünfzehn Jahre Zeit gehabt, sich zu überlegen, ob sie in der DDR bleiben oder in den Westen gehen wollten.« Grewe machte sich Sorgen, weil diese taktlose Bemerkung das ohnehin gespannte Verhältnis zu Adenauer zusätzlich vergiftete.
Somit habe er, erinnerte sich Grewe Jahre später, den Eindruck bekommen, dass Kennedy gelegentlich selbst gezweifelt habe, ob es damals angemessen gewesen sei, eine passive Haltung einzunehmen, oder ob er mit einer aktiveren Politik hätte versuchen sollen, den Bau der Mauer zu verhindern. Kennedy brachte diesen Selbstzweifel in der Frage zum Ausdruck, die er Grewe stellte: »Sind Sie denn der Meinung, dass wir anders
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