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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
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Mitbürgern im sowjetischen Sektor, ihren »Landsleuten in der Zone«, nicht helfen konnten. Das sei für alle »die bitterste Pille, die wir schlu-cken
müssen«. Sie könnten ihnen nur helfen, ihre Bürde zu tragen, indem sie den Landsleuten zeigten, dass sie sich erheben und in dieser verzweifelten Stunde an ihrer Seite stehen würden.
    Bild 8
    16. August: Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt rüttelt mit einer Rede seine Stadt auf.
    Die Menge klatschte begeistert Beifall, vor Erleichterung, dass Brandt endlich ihre Sorgen in Worte gefasst hatte.
    Brandt zog Parallelen zwischen Ulbrichts Diktatur und dem Dritten Reich. In seinen Augen war die Grenzschließung eine neue Version der Besetzung des Rheinlands durch Hitler. Nur dass heute dieser Mann Ulbricht heiße. Er musste die ohrenbetäubenden Jubelrufe mit seiner kratzigen Stimme niederbrüllen, die durch die Wahlkampfauftritte und langjähriges Kettenrauchen ganz rau geworden war.
    Vor dem heikelsten Teil seiner Rede, in dem er sich direkt an die USA und Kennedy wandte, machte Brandt eine kurze Pause. Er begann damit, die Amerikaner zum Missfallen vieler Zuhörer zu verteidigen, denn ohne sie, so Brandt, wären die Panzer weitergerollt.
    Die Menge applaudierte erst wieder, als er ihre eigene Enttäuschung über Kennedy zum Ausdruck brachte.

    Bild 36
    Eine Viertelmillion Westberliner hören seine Warnung, dass der Fortbestand der gesamten nichtkommunistischen Welt auf dem Spiel stehe.
    »Berlin erwartet mehr als Worte«, sagte er, »Berlin erwartet politische Aktion. « Die Menge brach in Jubelrufe aus, als er ihnen mitteilte, dass er US-Präsident Kennedy persönlich einen Brief geschrieben habe. »Ich habe [ihm] in aller Offenheit meine und, wie ich glaube, auch Ihre Meinung gesagt«, erklärte er unter dem Beifall der Menge. Brandt sah ihre Augen bei dem Angriff auf die Amerikaner leuchten, auch wenn sie genau wussten, dass sie es allein niemals mit den Sowjets aufnehmen konnten. 22
    OVAL OFFICE, WEISSES HAUS, WASHINGTON, D.C.
MITTWOCHVORMITTAG, 16. AUGUST 1961
    Der amerikanische Präsident war empört.
    Er hielt den Brief des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, der ganz oben auf dem Stapel seiner morgendlichen Korrespondenz lag, für beleidigend und impertinent. Selbst im Hinblick auf die Lage von Berlin ging er über den Ton hinaus, den ein Bürgermeister sich gegenüber dem amerikanischen Präsidenten erlauben durfte. Mit jeder Zeile, die er las, war Kennedy stärker überzeugt, dass der Brief in erster Linie Brandts Wahlkampf dienen sollte.
    Brandt bezeichnete die Sperrung der Grenze als »einen ernsten Einschnitt in der Nachkriegsgeschichte dieser Stadt, wie es ihn seit der Blockade nicht mehr gegeben hat«. Mit einem erstaunlich direkten Tadel an die Kennedy-Administration schrieb er: »Während früher die Kommandanten der alliierten Mächte in Berlin bereits gegen Paraden der sogenannten Volksarmee protestierten, haben sie sich jetzt mit einem verspäteten und nicht sehr kraftvollen Schritt nach der militärischen Besetzung des Ostsektors durch die Volksarmee begnügen müssen.« Er warf den Alliierten vor, sie hätten »die illegale Souveränität der Ostberliner Regierung durch Hinnahme anerkannt«. Der Regierende Bürgermeister protestierte: »Wir haben jetzt einen Zustand vollendeter Erpressung. «
    Dabei hätte die aktuelle Entwicklung »den Widerstandswillen der Westberliner Bevölkerung« keineswegs geschwächt, teilte Brandt Kennedy mit, »aber sie war geeignet, Zweifel an der Reaktionsfähigkeit und Entschlossenheit der drei Mächte zu wecken«. Er erkannte Kennedys Argument an, dass die Garantien des bestehenden Vier-Mächte-Status lediglich für Westberlin und seine Bevölkerung, die dortige Anwesenheit von Truppen und ihre Zufahrtswege
gelten würden, hob jedoch hervor: »Dennoch handelt es sich um einen tiefen Einschnitt im Leben des deutschen Volkes.«
    Brandt warnte Kennedy, dass Berlin zu »einem Ghetto« werden und »seine Funktion als Zufluchtsort der Freiheit und als Symbol der Hoffnung auf Wiedervereinigung« verlieren könnte. In diesem Fall »könnten wir«, so Brandt, »statt der Fluchtbewegung nach Berlin den Beginn einer Flucht aus Berlin erleben«, weil die Bürger das Vertrauen in die Zukunft der Stadt verloren hätten.
    Im Folgenden machte Brandt eine Reihe von Vorschlägen und ignorierte wiederum den Umstand, dass er nur Bürgermeister einer deutschen Stadt war und dass diese Art von bilateraler Korrespondenz

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