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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
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ACHESON, MEMORANDUM ZU BERLIN
FÜR PRÄSIDENT KENNEDY, 3. APRIL 1961 2
    NOWOSIBIRSK, SIBIRIEN
SONNTAG, 9. MÄRZ 1961
    Nikita Chruschtschow war in schlechter gesundheitlicher Verfassung und nicht bei Laune. Der Parteichef hatte ein wachsweißes Gesicht, sein Körper war in sich zusammengesackt, und seine Augen waren leblos – ein Aussehen, das in einem so krassen Kontrast zu seinem üblichen draufgängerischen Temperament stand, dass US-Botschafter Llewellyn »Tommy« Thompson und seine beiden Reisegefährten, der junge politische Berater der US-Regierung Boris Klosson und Anatolij Dobrynin, der Amerika-Experte im sowjetischen Außenministerium, regelrecht schockiert waren. 3
    Zehn Tage lang hatte Thompson immer wieder nachgefragt, bis es ihm endlich gelungen war, eine Audienz bei Chruschtschow zu bekommen, um
dem Parteichef den ersten persönlichen Brief des US-Präsidenten mit der längst erwarteten Einladung zu einem Treffen zu übergeben. 4 Und selbst dann war Thompson gezwungen gewesen, fast 3000 Kilometer zu fliegen, um Chruschtschow in Akademgorodok abzufangen, einer riesigen Forschungsstadt, die auf Befehl Chruschtschows nicht weit von Nowosibirsk in der westsibirischen Ebene aus dem Boden gestampft worden war.
    Der Parteichef hatte den Anspruch gehabt, in Sibirien das weltweit führende Forschungszentrum zu bauen, aber wie so viele Träume von ihm hatte auch dieser sich nicht erfüllt. In derselben Woche hatte er einen Genetiker entlassen, dessen Theorien ihm nicht gefallen hatten, und er hatte angeordnet, von den laut Bauplan vorgesehenen neun Stockwerken für die Akademie vier wieder zu streichen, damit der Bau eher der sowjetischen Standardgröße entsprach. 5 Die Enttäuschung wegen Akademgorodok war jedoch nur ein Beispiel aus einer immer länger werdenden Liste sowjetischer Fehlschläge, die am Selbstvertrauen des Parteichefs kratzten.
    Die landwirtschaftliche Inspektionsreise durch das Land hatte bei Chruschtschow physisch und emotional ihren Tribut gefordert und ihm die wirtschaftlichen Mängel seines Landes umso klarer bewusst gemacht. Albanien hatte in geradezu ketzerischer Weise öffentlich Moskau die Treue aufgekündigt und war auf die Seite Chinas gewechselt – ein beunruhigender erster Riss in der sowjetischen Führungsrolle in der weltweiten kommunistischen Bewegung. Moskaus Verbündeter im Kongo, Patrice Lumumba, war ermordet worden; für diesen Tod machte Chruschtschow UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld persönlich verantwortlich. 6
    Noch schwerwiegender war: Die kapitalistische Welt erwies sich als weit zäher, als seine Propagandisten vorhergesagt hatten. Die Entkolonialisierung in Afrika hatte das Ansehen des Westens in den jetzt unabhängigen Entwicklungsländern nicht so nachhaltig geschädigt, wie seine Experten sich das vorgestellt hatten. Ungeachtet aller sowjetischen Bemühungen, das Bündnis zu spalten, vertiefte sich die Integration der NATO, und die westdeutsche Bundeswehr weitete ihre Kapazitäten so rasch aus, dass sich dadurch das militärische Kräfteverhältnis in Europa verschob. Sowohl in seinen Äußerungen als auch mit seinen Rüstungsausgaben zeigte sich US-Präsident Kennedy eher noch antikommunistischer als Eisenhower. Und Monat für Monat stieg die Zahl der Flüchtlinge aus Ostdeutschland auf neue Rekordhöhen. Wenn Chruschtschow nicht bald Erfolge vorweisen konnte, musste der Sowjetführer befürchten, dass er auf dem Parteitag im Oktober ums eigene Überleben kämpfen würde.

    Vor diesem Hintergrund erklärte sich Chruschtschow erst dann zu einem Treffen mit Thompson bereit, als der US-Botschafter gegenüber dem New-York-Times- Korrespondenten Seymour Topping (sowie einigen Diplomaten in Moskau) durchsickern ließ, dass der Sowjetführer ihm ausgerechnet zu einer Zeit die kalte Schulter biete, als Kennedy ihm die Hand reichen wollte. Am 3. März hatte Topping pflichtgetreu berichtet, dass Thompson derzeit vergeblich versuche, eine wichtige Botschaft Kennedys an Chruschtschow weiterzuleiten. Der Präsident hoffe, auf diese Weise »ein ernstes Unglück in unseren Beziehungen zu verhindern«. Topping schrieb, dass Thompson ein neues Mandat habe, »eine Reihe von Sondierungsgesprächen zu beginnen, die substanzielle Verhandlungen zu einer ganzen Reihe west-östlicher Meinungsunterschiede zum Ziel hätten«. 7
    Selbst danach stimmte Chruschtschow nur widerwillig einem Treffen mit Thompson zu. Sein Berater Oleg Trojanowskij hatte beobachtet, dass sich die

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