Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Zukunft der NATO und die damit zusammenhängenden Fragen des Atomwaffeneinsatzes sowie die Verteidigung Westberlins. Acheson hatte seinen Platz in der Geschichte bereits sicher, weil er federführend an der Gründung des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und des Marshall-Plans beteiligt gewesen war. Er war der wichtigste Gestalter der NATO gewesen – hatte etwa die Abneigung Amerikas gegen langfristige Bündnisse überwunden – und hatte gemeinsam mit George Marshall die Truman-Doktrin von 1947 ausgearbeitet, der zufolge der außenpolitische Grundsatz der USA lautete, »allen Völkern, deren Freiheit von militanten Minderheiten oder durch einen äußeren Druck bedroht ist«, Beistand zu gewähren, auf der ganzen Welt den Kommunismus zu bekämpfen und die Demokratie zu unterstützen. Die Tatsache, dass Kennedy ihn einlud, sich wiederum zu engagieren, war für Acheson ein Zeichen dafür, dass seine Fähigkeiten noch geschätzt und gebraucht wurden.
Selbst im Alter von fast achtundsechzig Jahren war Acheson noch eine einnehmende Persönlichkeit. 28 Der stets ebenso tadellos gekleidete wie informierte Acheson sagte Freunden gern im Vertrauen, dass ihm der Selbstzweifel völlig fehle, der seine Widersacher so sehr plage. Mit der Melone, dem spöttischen Grinsen, stahlblauen Augen und nach oben gezwirbeltem Schnurrbart fiel er ohnehin überall auf. Der scharfsinnige, über ein Meter achtzig große, schlaksige Acheson, der für Dummköpfe nichts übrighatte, widmete sich seinem neuen Studienobjekt Berlin mit derselben Entschlossenheit, die Sowjets auszumanövrieren und zu überspielen, die seine Karriere so sehr geprägt hatte. Eben diese harte Linie hatte ein so merkwürdiges Band zwischen Acheson und Präsident Truman geknüpft – zwischen dem in Yale geschulten, Martini trinkenden Sohn eines Pfarrers der Episkopalen Kirche und dem Politiker aus dem Mittleren Westen ohne College-Abschluss, der kein Blatt vor den Mund nahm.
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5. April: Kennedy macht mit dem britischen Premierminister Harold Macmillan während einer Gesprächspause einen kleinen Spaziergang. Bei diesem Washingtoner Treffen überrascht der US-Präsident seinen Verbündeten mit der harten Haltung seiner Regierung in der Berlin-Frage.
Kurz nach Kennedys Wahl hatte sich Acheson in einem Brief an Truman über ihn lustig gemacht, weil der Ex-Präsident Bedenken wegen Kennedys Katholizismus geäußert hatte. »Machen Sie sich wirklich Sorgen, weil Jack Katholik ist?«, hatte er Truman gefragt, der Kennedy abschätzig »den jungen Mann« nannte. Acheson erinnerte Truman daran, es habe ihm nie etwas ausgemacht, dass de Gaulle und Adenauer Katholiken waren. »Außerdem«, fügte Acheson wissend hinzu, »glaube ich nicht, dass er ein sehr guter Katholik ist.« 29
Seit Kennedys Auftrag vom Februar hatte Acheson intensiv sämtliche Eventualitäten für Berlin geprüft. Er stimmte Thompson zu, dass es noch in diesem Jahr vermutlich zu einem Showdown kommen werde, aber da hörte die Einhelligkeit auch schon auf. Er riet dem Präsidenten, mehr Stärke zu zeigen und jede Hoffnung auf eine Verhandlungslösung aufzugeben, die den Status quo verbessern könnte. »Sämtliche Handlungsoptionen sind riskant und nicht sehr vielversprechend«, schrieb Acheson. »Untätigkeit ist allerdings noch schlimmer. Es heißt: Friss oder stirb. Wenn es zu einer Krise kommt, könnte sich ein mutiger und riskanter Kurs als der sicherste erweisen.«
Eisenhower hatte Achesons Ratschlag zurückgewiesen, der seinerzeit von außerhalb der Regierung kam, dass der US-Präsident energischer auf die wiederholten Tests Moskaus, wie stark Amerika sich in Europa und Berlin engagieren werde, reagieren müsse, nämlich mit einer massiven militärischen Aufrüstung. Acheson hoffte, bei Kennedy auf offenere Ohren zu stoßen. Rusk und Bundy hatte er bereits überzeugt, und er konnte sich auf die beiden anderen einflussreichsten Regierungsvertreter zum Thema Berlin verlassen: Paul Nitze aus dem Pentagon und Foy Kohler vom Außenministerium.
Das wohl umstrittenste Argument Achesons in seinem Memorandum war die These, dass die Gefahr eines weltweiten Atomkriegs möglicherweise nicht mehr ausreiche, um Chruschtschow in Berlin abzuschrecken – falls sie denn jemals ausgereicht hatte. Laut Acheson war das bisherige Zögern Chruschtschows eher auf den Wunsch zurückzuführen, einen Abbruch der Beziehungen
zum Westen zu vermeiden, als auf die Überzeugung, dass die USA einen Atomkrieg
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