Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Meinungsverschiedenheiten um Berlin zu beseitigen, würden ihre Truppen weiterhin einander gegenüberstehen, in einem Zustand »des Waffenstillstands zwar, aber nicht des Friedens«. Chruschtschow wollte nichts hören von Kennedys Vorstellung, dass über Abrüstungsverhandlungen das nötige Vertrauen aufgebaut werden könne, um die schwierigere Berlin-Frage anzugehen. Genau umgekehrt, sagte er: Erst ein amerikanischer und sowjetischer Truppenabzug aus Deutschland werde die geeignete Atmosphäre für Abrüstungen schaffen. 19
Nachdem Chruschtschow wochenlang versucht hatte, ein Treffen mit Kennedy zustande zu bringen, antwortete er nunmehr zurückhaltend auf die Einladung des US-Präsidenten. Er sagte lediglich, dass er »geneigt sei«, Kennedys Angebot anzunehmen, sich in der ersten Maiwoche, in rund zwei Monaten, zu treffen, nach Besuchen des britischen Premiers Macmillan und des westdeutschen Kanzlers Adenauer in Washington sowie nach einem Besuch Kennedys in Paris, wo er de Gaulle treffen wollte. Kennedy hatte entweder Wien oder Stockholm als Treffpunkt vorgeschlagen. Chruschtschow meinte, er ziehe Wien zwar vor, schließe Schweden aber keineswegs aus. Der sowjetische Parteichef meinte achselzuckend, dass es sicher hilfreich sei, Kennedy persönlich kennen zu lernen; beiläufig schob er nach, dass sie sich 1959 ja nur kurz begegnet seien, als der damalige Senator zu spät zu dem Besuch des sowjetischen Parteiführers im Senatsausschuss für Auswärtige Beziehungen erschienen sei. Ohne die Einladung anzunehmen oder abzulehnen, sagte Chruschtschow jedoch zu Thompson, dass »es notwendig sei, einen Anlass für das Treffen zu finden«.
Am Ende des anschließenden Mittagessens hob Chruschtschow ein Glas mit seinem geliebten Pfefferwodka zu einem lauen Trinkspruch auf Kennedy, der in einem eklatanten Gegensatz zu der enthusiastischen Neujahrsansprache stand. Er verzichtete auf die üblichen Wünsche zu Kennedys Gesundheit: »Da er so jung ist, hat er solche Wünsche nicht nötig.« Nachdem er die im vorigen
Jahr ausgesprochene Einladung an Eisenhower, die Sowjetunion zu besuchen, zurückgezogen hatte, bedauerte er es, dass die Zeit noch nicht reif sei, Kennedy und seine Familie die traditionelle Gastfreundschaft seines Landes erleben zu lassen.
Thompson kehrte noch am selben Abend mit dem Flugzeug zum schneebedeckten Flughafen Wnukowo in Moskau zurück, und sein Fahrer brachte ihn über vereiste Straßen zur Botschaft, wo Thompson seinen Bericht nach Washington telegrafierte. 20 Obwohl er seit achtzehn Stunden auf den Beinen war, hielt ein Adrenalinschub ihn wach, während er tippte.
Nach Thompsons Erfahrung war Chruschtschow noch nie so einseitig auf Berlin fixiert gewesen. Der sowjetische Parteichef hatte bei Thompson den Eindruck erweckt, dass er das Problem nicht länger hinausschieben werde. »Alle meine diplomatischen Kollegen, die diese Angelegenheit erörtert haben, sind der Meinung, dass Chruschtschow, wenn es nicht zu Verhandlungen kommt, noch in diesem Jahr […] eine Berlin-Krise herbeiführen wird«, schrieb er. 21
Eine Woche später drängte Thompson seine Vorgesetzten in einem weiteren Telegramm, ihre Krisenplanung für ein eventuelles sowjetisches Vorgehen gegen Berlin zu beschleunigen. 22 Die Beziehungen zwischen Chruschtschow und der Kennedy-Administration seien so schlecht, argumentierte der Botschafter, dass der sowjetische Führer den Eindruck haben könnte, dass er bei Berlin viel zu gewinnen und wenig zu verlieren hätte. Thompson fügte jedoch hinzu, dass Chruschtschow eine militärische Konfrontation mit dem Westen immer noch vermeiden wolle und die Ostdeutschen anweisen werde, den Zugang des alliierten Militärs zu der Stadt in keiner Weise einzuschränken.
Thompson zählte die Ursachen für die wachsenden sowjetisch-amerikanischen Spannungen auf, die sich in den ersten Wochen der Kennedy-Administration angesammelt hatten: Der Kreml habe kein Interesse an dem US-Vorschlag eines Stopps aller Kernwaffentests; er halte Kennedy für militanter als Eisenhower aufgrund des aufgestockten Rüstungsbudgets; er sei beunruhigt über die amerikanischen Vorbereitungen für Guerillakriege in der Dritten Welt; und er sei ungehalten über die zunehmenden Beschränkungen der Kennedy-Administration für den Verkauf sensibler Technologie an die Sowjets. Außerordentlich verärgert sei der Kreml über die persönliche und öffentlich geäußerte Zusage Kennedys, Radio Free Europe stärker zu unterstützen,
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