Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Dringlichkeit inzwischen höher als damals war.
Die besten Köpfe in den US-Geheimdienstkreisen bestätigten diese Ansicht. Das Intelligence Board’s Special Subcommittee zur Berlin-Frage der US-Regierung, das maßgebliche Gremium der Agentenwelt zu diesem Thema, erklärte, es sei unwahrscheinlich, dass Chruschtschow »zum jetzigen Zeitpunkt die Spannungen wegen Berlin verschärfen« werde. Nach ihrer Einschätzung würde Moskau den Druck nur dann erhöhen, wenn Chruschtschow glaube, er könne auf diese Weise Kennedy zu Gipfelgesprächen zwingen. Ihr Fazit: Wenn Kennedy zeigte, dass verschärfte sowjetische Drohungen ihn nicht sonderlich beeindruckten, dann werde Chruschtschow die Lage in Berlin nicht eskalieren lassen. 24
Also beschloss der Präsident einmal mehr, dass das Thema Berlin noch warten könne. Zwei andere Angelegenheiten prägten ebenfalls allmählich sein
Denken. Zum einen sollte Dean Acheson in Kürze dem Präsidenten seinen ersten Bericht zur Berlin-Politik vorlegen – exakt der Gegenpol der Falken zu Thompsons weicherer Linie. Zum anderen wurde Kennedy zunehmend von einer Angelegenheit in Anspruch genommen, die sich vor der eigenen Haustür abspielte. Seine Topagenten trafen die letzten Vorbereitungen für eine Invasion Kubas durch Exilkubaner, die von der CIA ausgebildet und ausgerüstet worden waren.
WASHINGTON, D.C.
MONTAG, 3. APRIL 1961
Achesons Bericht, die erste längere Denkschrift der Kennedy-Administration zur Berlin-Politik, landete einen Tag vor der Ankunft des britischen Premierministers Harold Macmillan in Washington auf dem Schreibtisch von US-Außenminister Dean Rusk. In seiner charakteristischen Art hatte Acheson, Außenminister unter Präsident Truman, den Zeitpunkt für die Abgabe so gewählt, dass das Papier eine möglichst große Wirkung erzielte und gleich zu Beginn einer Reihe alliierter Besucher eine harte Linie vorgab. 25
Sein zentrales Argument lautete, dass Kennedy die Bereitschaft signalisieren müsse, um Berlin zu kämpfen, wenn er eine sowjetische Vorherrschaft in Europa und danach in Asien und Afrika verhindern wolle. Indem er seine Worte wie Waffen ins Feld führte, schrieb Acheson, falls die Vereinigten Staaten »eine kommunistische Machtübernahme in Berlin akzeptierten – ganz gleich nach welcher Hinhaltetaktik, um das Gesicht zu wahren –, dann würde das Machtverhältnis in Europa drastisch verändert, und Deutschland und vermutlich auch Frankreich, Italien und die Beneluxländer würden sich entsprechend anpassen. Das Vereinigte Königreich würde hoffen, dass sich irgendeine Möglichkeit ergeben würde. Aber vergeblich.«
Acheson kannte Kennedy so gut, dass er sich sicher sein konnte, dass der Präsident sowohl seinem Urteil vertraute als auch sein Misstrauen gegen die Sowjets teilte. Auf der Suche nach einem Außenminister während der Übergangsphase hatte Kennedy Acheson, seinen Nachbarn in Georgetown, um Rat gefragt. Während eine Meute Fotografen vor der Haustür wartete, hatte der gewählte Präsident Acheson anvertraut, dass er »in den letzten Jahren so viel Zeit investiert hatte, Menschen kennen zu lernen, die ihm helfen konnten, Präsident
zu werden, um nunmehr festzustellen, dass er sehr wenig Menschen kannte, die ihm halfen, Präsident zu sein. « 26
Anschließend trug Acheson maßgeblich dazu bei, Kennedy davon abzubringen, Senator William Fulbright in die engere Wahl zu nehmen. In seinen Augen war der Senator »nicht solide und ernsthaft genug für diesen Posten. Ich war immer der Meinung, dass er etliche Eigenschaften eines Dilettanten in sich vereinte.« 27 Stattdessen lenkte er Kennedy zu dem Mann, der am Ende gewählt wurde: Dean Rusk, der in seiner Funktion als Leiter des Ressorts für Fernost unter Truman Außenminister Acheson tatkräftig beim Kampf gegen Appeasementpolitiker und den Kommunismus in Asien unterstützt hatte. Hinsichtlich anderer Kabinetts- und Botschaftsposten gab Acheson manchen Namen seinen Segen und vernichtete andere, er frönte damit der Washingtoner Hetzjagd, die er so sehr liebte. Er lehnte auch Kennedys Angebot, US-Botschafter bei der NATO zu werden, ab mit dem Argument, er ziehe es vor, seine unabhängige Kanzlei und das Einkommen als Anwalt zu behalten, ohne dass »alle diese Statuten Einfluss auf mich haben«.
Abgesehen davon genoss Acheson es, seinen Einfluss auf die Regierung zu erneuern, indem er sich maßgeblich in die Diskussion zweier Themen mit oberster Priorität für Amerika einschaltete: die
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