Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
das sich als ein wirkungsvolles Werkzeug entpuppt hatte, um das Informationsmonopol kommunistischer Regime zu durchbrechen. In Afrika und Südamerika
würden die Stellvertreterkriege, so Thompson, fortgesetzt werden und sich womöglich noch zuspitzen.
Seine Gedanken, was der Brennpunkt des mutmaßlichen Treffens mit Chruschtschow sein werde, legte Thompson für Präsident Kennedy wie folgt dar: »Die Erörterung des deutschen Problems wird, was [Chruschtschow] betrifft, das Hauptthema der Veranstaltung sein. Vermutlich legt der sowjetische Parteichef seinen Kurs bezüglich Berlins auf diesem Treffen oder unmittelbar danach fest.« Laut Thompson sei es die schwerste Aufgabe des Präsidenten, Chruschtschow zu überzeugen, dass die Vereinigten Staaten eher kämpfen würden, als die Westberliner im Stich zu lassen. Andererseits führe eine völlig unnachgiebige Haltung zwangsläufig zur Konfrontation. Chruschtschow werde dieses Thema noch vor dem Parteitag im Oktober forcieren, prophezeite Thompson. Und in diesem Fall »könnte dies die reale Gefahr eines Weltkriegs mit sich bringen, und wir würden so gut wie sicher auf eine verschärfte Kalter-Krieg-Beziehung zurückfallen«.
Thompson wiederholte seine Überzeugung, dass man die Risiken von Verhandlungen mit Chruschtschow gegen die Realität abwägen müsse und dass die Vereinigten Staaten im Grunde keine Alternative hätten. Bei allen Nachteilen, so Thompson, sei Chruschtschow »aus unserer Sicht vermutlich noch besser als jeder, der ihm wahrscheinlich nachfolgen wird«. Somit lag es in Amerikas Interesse, Chruschtschow an der Macht zu halten, auch wenn Thompson einräumte, dass seine Botschaft viel zu wenig über die innere Funktionsweise des Kremls wisse, um einen verlässlichen Ratschlag zu erteilen, wie Kennedy die Auseinandersetzungen innerhalb der kommunistischen Partei beeinflussen könne.
Mit einer geradezu unheimlichen Weitsichtigkeit fügte Thompson hinzu: »Falls wir davon ausgehen, dass die Sowjets die Berlin-Krise nicht weiter verschärfen, dann müssen wir zumindest damit rechnen, dass die Ostdeutschen die Sektorengrenze abriegeln, um den für sie unerträglichen Flüchtlingsstrom durch Berlin zu stoppen.« 23
Mit diesem Gedanken war Thompson möglicherweise der erste US-Diplomat, der den Bau der Berliner Mauer vorhersagte.
Anschließend schlug Thompson eine Verhandlungsposition vor, die die Sowjets seiner Meinung nach akzeptieren könnten und die es Washington gestatten würde, wiederum die Initiative an sich zu reißen. Kennedy sollte Chruschtschow eine Übergangslösung zu Berlin vorschlagen, nach der den beiden deutschen Staaten sieben Jahre eingeräumt würden, um eine langfristige
Lösung auszuhandeln. Während dieser Zeit, gewissermaßen im Gegenzug für eine sowjetische Garantie des freien Zugangs zu Westberlin, würden die Vereinigten Staaten den Sowjets versichern, dass Westdeutschland keinen Versuch unternehmen werde, die östlichen Territorien zurückzugewinnen, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verloren hatte.
Mit diesem Deal könnten die Ostdeutschen, so Thompson, den Flüchtlingsstrom stoppen, was sowohl im amerikanischen als auch im sowjetischen Interesse liege, weil die wachsende Zahl der Flüchtlinge die Region destabilisiere. Um seinen Plan zu konkretisieren, schlug Thompson als vertrauensbildende Maßnahme vor, die westlichen verdeckten Aktivitäten zu verringern, die von Berlin aus durchgeführt wurden, sowie die Schließung des amerikanischen Rundfunksenders RIAS, der von Westberlin aus Berichte in die sowjetische Zone ausstrahlte. Selbst wenn Chruschtschow ein entsprechendes US-Angebot ablehne, werde Thompsons Ansicht nach schon allein der Vorschlag es Kennedy ermöglichen, die öffentliche Meinung auf seine Seite zu ziehen, und dann werde es für Chruschtschow schwieriger werden, unilateral zu handeln.
Kennedy konnte die von seinem Botschafter vermittelte Dringlichkeit jedoch nicht nachvollziehen. Er und sein Bruder Robert hatten allmählich den Verdacht, dass Thompson der alten Krankheit der »Klientelpolitik« des US-Außenministeriums verfallen sei und sich allzu bereitwillig die sowjetischen Positionen aneigne. Der Präsident räumte gegenüber Freunden ein, dass er Chruschtschow immer noch nicht »begreife«. Immerhin hatte Eisenhower das Berlin-Ultimatum des sowjetischen Parteichefs von 1958 ebenfalls ignoriert, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen gehabt hätte. Kennedy wollte nicht einsehen, dass die
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