Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
streitlustige Kommunistenführer wie ein verknallter Schuljunge wirkte, wenn das Eis im Frühling auf der Wolga taut«. Chruschtschow
gab sich alle Mühe, neben Jackie zu sitzen, während das Kammerorchester der Wiener Philharmoniker Mozart spielte und anschließend das Ballett der Wiener Staatsoper den »Donauwalzer« vorführte.
Kennedys Auftritt war längst nicht so elegant. Unmittelbar vor Beginn der Musik wollte er sich auf einen Stuhl setzen, musste jedoch feststellen, dass er bereits von Chruschtschows Frau besetzt war. Erst im letzten Moment, bevor er auf ihrem Schoß landete, bemerkte er seinen Fauxpas. 60
Er lächelte entschuldigend. Nein, das Wiener Gipfeltreffen lief wirklich nicht gut für ihn.
KAPITEL 11
Wien: Kriegsdrohungen
Die USA sind nicht bereit, die Lage am gefährlichsten Ort der Welt zu
normalisieren. Die UdSSR will einen chirurgischen Eingriff an diesem schlimmen
Ort vornehmen – um diesen Dorn, dieses Krebsgeschwür zu beseitigen.
MINISTERPRÄSIDENT CHRUSCHTSCHOW ZU PRÄSIDENT KENNEDY,
WIEN, 4. JUNI 1961 1
Ich habe noch nie einen Mann wie ihn getroffen. Ich sprach davon, dass eine atomare Auseinandersetzung siebzig Millionen Menschen in zehn Minuten töten könnte, und er schaute mich nur an, als ob er sagen wollte: »Na und?« Ich hatte den Eindruck, dass er sich einen Dreck darum scheren würde, wenn es dazu kommen sollte.
PRÄSIDENT KENNEDY ZUM TIME -REPORTER HUGH SIDNEY
IM JUNI 1961 2
SOWJETISCHE BOTSCHAFT, WIEN
SONNTAG, 4. JUNI 1961, 10:15 UHR
Nikita Chruschtschow stand vor der sowjetischen Botschaft und wiegte sich hin und her wie ein Boxer, der ungeduldig in seiner Ringecke wartet, nachdem er die ersten Runden gewonnen hat. Ein breites Grinsen enthüllte die Lücke in seinen Vorderzähnen, während er seine kleine, fleischige Hand Kennedy entgegenstreckte.
Für die Vertretung einer angeblichen Arbeitermacht war die Wiener Botschaft auf fast schamlose Weise hochherrschaftlich. 3 Tatsächlich hatte das zaristische Russland das Gebäude im späten 19. Jahrhundert erworben. Hinter seiner Neorenaissancefassade öffnete sich eine riesige Eingangshalle aus Naturgranit und Marmor. »Ich begrüße Sie auf diesem Stückchen sowjetischen Territoriums«,
sagte Chruschtschow zu Kennedy. 4 Dann zitierte er ein russisches Sprichwort, mit dem Kennedy nicht sehr viel anfangen konnte: »Manchmal trinken wir nur aus kleinen Gläsern, aber wir reden mit umso mehr Gefühl.«
Nach einem neunminütigen unbedeutenden Geplauder geleitete Chruschtschow seine amerikanischen Gäste durch einen Säulengang zu einer großen Treppe, die zum ersten Stock hinaufführte. Oben angekommen, ließen sie sich auf Sofas in einem über 35 Quadratmeter großen Konferenzraum nieder, dessen Wände mit rotem Damast bespannt waren.
Die Art und Weise, wie die beiden Männer den Morgen ihres zweiten Konferenztags verbracht hatten, sprach Bände über ihre Unterschiedlichkeit. 5 Die katholischen Kennedys besuchten eine von Franz Kardinal König in der gotischen Pracht des Stephansdoms zelebrierte Messe, die musikalisch von den Wiener Sängerknaben umrahmt wurde. 6 Die Augen der First Lady füllten sich mit Tränen, als sie zum Gebet niederkniete. Als die Kennedys aus der Kirche traten, jubelte ihnen die Menge, die sich auf dem Vorplatz versammelt hatte, begeistert zu. Etwa zur selben Zeit beobachtete eine weit kleinere und weniger begeisterte Menschenansammlung voller Neugier, wie der Staatschef der atheistischen Sowjetunion einen Kranz am sowjetischen Kriegerdenkmal am Schwarzenbergplatz niederlegte, das die Einheimischen voller Bitterkeit das »Denkmal für den unbekannten Plünderer« getauft hatten.
Im Konferenzraum, in dem sich die beiden Delegationen versammelten, waren die zur Wandbespannung passenden Vorhänge zugezogen. Sie verbargen die hohen, breiten Botschaftsfenster und schufen eine düstere Atmosphäre, da sie das helle Licht dieses Tages nach draußen verbannten. Wie am ersten Tag versuchte Kennedy, die Gesprächsatmosphäre zu lockern, indem er den sowjetischen Ministerpräsidenten nach seiner Kindheit fragte. 7 Chruschtschow hatte jedoch nicht die geringste Lust, über seine bäuerliche Herkunft mit diesem Spross der privilegierten Klasse zu sprechen. Deshalb antwortete er nur ganz kurz, dass er in einem russischen Dorf in der Nähe von Kursk geboren wurde, das weniger als 10 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt lag.
Er brachte dann das Gespräch schnell wieder auf die Gegenwart
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