Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
anders als erwartet war, wollte O’Donnell wissen.
»Eigentlich nicht«, sagte Kennedy, korrigierte sich dann aber. »Vielleicht ein bisschen unvernünftiger. […] Nach dem, was ich gelesen hatte und mir andere gesagt hatten, habe ich angenommen, dass er klug und hart sein würde. Er musste doch klug und hart sein, wenn er sich in so einer Regierungsform bis an die Spitze vorgearbeitet hatte.« 52
Dave Powers erzählte dem Präsidenten, dass er und O’Donnell vom Fenster aus zugesehen hatten, wie der Sowjetführer beim Spaziergang im Garten auf ihn losgegangen sei. »Sie sind erstaunlich ruhig geblieben, als er Ihnen da draußen die Hölle heißmachte.« 53
Kennedy zuckte mit den Achseln. »Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte er. »Den Schuh ausziehen und ihm damit eins über den Kopf geben?« Er sagte, Chruschtschow habe ihn unablässig wegen Berlin bearbeitet, um ihn mürbe zu machen. Chruschtschow hatte sich gewundert, wie die Vereinigten Staaten an der Idee einer deutschen Vereinigung festhalten konnten. Er hege keinerlei Sympathie für die Deutschen, die im Krieg seinen Sohn umgebracht hatten, sagte der Sowjetführer. 54
Seinen Freunden erzählte Kennedy von der heftigen Reaktion Chruschtschows auf seine Bedenken wegen eines möglichen Rechenfehlers auf beiden Seiten, der zum Krieg führen könnte. »Chruschtschow lief geradezu Amok«, sagte er. Er bat O’Donnell, sich zu merken, dass man das Wort während der restlichen Gespräche besser meiden sollte. 55
Bild 52
Bei einem Dinner im Schloss Schönbrunn zeigt sich Chruschtschow von Jackie Kennedy hingerissen.
Der österreichische Bundespräsident Adolf Schärf musste vor dem großen Galadinner im Schloss Schönbrunn ein Problem der Etikette lösen. Welcher der beiden hohen Gäste sollte zu seiner Rechten sitzen, fragte er sich.
Einerseits hatte Chruschtschow Wien vor dem drohenden Schicksal einer geteilten Stadt bewahrt, indem er durch den österreichischen Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 zuließ, dass das Land unabhängig und neutral wurde. Aus diesem Grund hatte Chruschtschows Frau Nina Petrowna einen Ehrenplatz
verdient. Aber die Wiener liebten die Kennedys geradezu, und die Österreicher fühlten sich, ungeachtet der Neutralität, als Teil des Westens. 56
Mit einem diplomatischen Kompromiss setzte Schärf Madame Chruschtschow beim Dinner an seine Rechte, Mrs Kennedy sollte den Ehrenplatz in der zweiten Hälfte des Abends bekommen, während der Vorführungen im Musiksaal.
Es war gewissermaßen Österreichs Entree ins Rampenlicht der politischen Bühne. Über sechstausend Wiener drängten sich um die von Scheinwerfern angestrahlten Tore des mehr als zweihundertfünfzig Jahre alten Schlosses Maria Theresias, um die Ankunft von Kennedy und Chruschtschow zu verfolgen. Die Bediensteten des Palastes hatten den Parkettboden auf Hochglanz gebohnert und die Fensterscheiben blitzblank geputzt. Die wertvollsten Antiquitäten wurden eigens aus den Ausstellungsräumen des Museums geholt und zum Gebrauch aufgestellt. In den Parkanlagen schnitten Gärtner Blumen und arrangierten sie so üppig auf den Tafeln, dass der ganze Saal danach duftete. Die Tische waren mit dem »Goldadlerservice« gedeckt, einem kostbaren Porzellanservice mit dem österreichischen Doppeladler in Gold auf mattweißem Hintergrund, das einst Kaiser Franz Joseph benutzt hatte. 57
Abgesehen davon, dass die Speisen kalt serviert wurden, klopften sich die Österreicher selbst für den gelungenen Abend auf die Schulter. Die Gäste bemerkten, wie gut Jackie und Nina Chruschtschowa miteinander auskamen. Jackie trug ein bodenlanges, perlmuttrosa Abendkleid. Das von Oleg Cassini entworfene Kleid war ärmellos und hatte eine tief angesetzte Taille. Chruschtschows Gattin trug ein dunkles, mit einem Goldfaden durchwirktes Seidenkleid – ein proletarischeres Modell. 58
Ihre Gatten gaben ein ähnliches Gegensatzpaar ab. Kennedy trug einen Frack mit Fliege und Chruschtschow einen schlichten dunklen Anzug und eine grau karierte Krawatte. Kellner mit weißen Handschuhen, Kniebundhosen und goldenen Tressen glitten mit Tabletts voller Drinks durch die Korridore und die weiten Säle.
»Herr Chruschtschow«, bat ein Fotograf, »würden Sie bitte für uns Herrn Kennedy die Hand geben?«
»Ich würde lieber zuerst ihr die Hand geben«, grinste Chruschtschow und nickte zur Frau des Präsidenten. 59
Der Associated-Press-Reporter Eddy Gilmore notierte sich, dass neben Jackie »der harte und oft
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