Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
Vom Netzwerk:
MINISTERIEN, OSTBERLIN
DONNERSTAG, 15. JUNI 1961
    Walter Ulbrichts Entscheidung, auf der kommunistischen Seite der Sektorengrenze eine Pressekonferenz mit in Westberlin akkreditierten Korrespondenten abzuhalten, war so beispiellos, dass seine Propagandaspezialisten nicht einmal wussten, wie sie diese Journalisten einladen sollten.
    Jetzt rächte es sich, dass Ulbricht bereits im Jahr 1952 alle Telefonleitungen
zwischen den beiden Teilen der Stadt gekappt hatte. 4 Und so mussten Ulbrichts Leute ein spezielles Operationsteam über die Demarkationslinie schicken, das mit zahlreichen Rollen voller bundesdeutscher 10-Pfennig-Münzen und einer Mitgliederliste des Westberliner Presseverbands ausgerüstet war. Von öffentlichen Telefonzellen aus riefen sie dann einen West-Journalisten nach dem anderen an, um jedem von ihnen eine dürre, dafür aber umso interessantere Mitteilung zu machen: »Pressekonferenz des Staatsratsvorsitzenden der Deutschen Demokratischen Republik Walter Ulbricht. Haus der Ministerien. Donnerstag. 11 Uhr. Sie sind eingeladen.«
    Drei Tage später drängten sich mehr als dreihundert Journalisten, von denen etwa die Hälfte aus dem Westen der Stadt stammte, im riesigen Festsaal, in dem einst Hermann Göring mit den Offizieren und Beamten seines Reichsluftfahrtministeriums rauschende Feste gefeiert hatte. An diesem Tag prangte jedoch über dem Podium das Emblem der DDR, Hammer und Zirkel in einem Ährenkranz, an der Stelle, an der einst der Nazi-Adler und das Hakenkreuz hingen.
    Als Ulbricht endlich eintraf, war es in dem Raum bereits unangenehm heiß und stickig. 5 Grund hierfür waren neben der Körperwärme der Journalisten die drückende Frühsommerhitze und die fehlende Klimaanlage. Auf dem Podium saß neben Ulbricht Gerhard Eisler, der legendäre Kommunist, der den staatlichen ostdeutschen Rundfunk leitete. Der »ostdeutsche Goebbels«, wie ihn seine Feinde nannten, ließ seine kleinen, vorquellenden Augen, die durch die runden, dicken Brillengläser vergrößert wurden, über die Menge gleiten. Obwohl er als Spion für die Sowjetunion im Jahr 1950 in den Vereinigten Staaten zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden war, konnte er vor Strafantritt auf dramatische Weise an Bord eines polnischen Dampfers aus New York flüchten. Schließlich ließ er sich in der neu gegründeten DDR nieder. Während sie auf den Beginn der Pressekonferenz warteten, flüsterten sich die westlichen Reporter zu, was sie über Eisler wussten.
    Der Korrespondent des amerikanischen Rundfunksenders Mutual Broadcasting Network, Norman Gelb, sog die Atmosphäre ein. Er hatte Ulbricht noch nie aus solcher Nähe gesehen. Wieder einmal fragte er sich, wie dieser kleine, unscheinbare, schmallippige und farblose Mann mit der Fistelstimme und randlosen Brille so viele sowjetische und ostdeutsche Machtkämpfe überleben konnte. Obwohl ihm sein sauber gestutzter Spitzbart eine gewisse, sicherlich gewollte Ähnlichkeit mit Lenin verlieh, kam er Gelb doch eher wie ein alternder Bürovorsteher als wie ein Diktator vor.

    Die Pressekonferenz 6 war so angesetzt worden, dass sie sich mit Chruschtschows erstem öffentlichem Bericht über den Wiener Gipfel in Moskau überschnitt. Ulbrichts lange einleitende Bemerkungen enttäuschten dann jedoch die Korrespondenten, die etwas historisch Bedeutsames erwartet hatten. Warum Ulbricht dieses außergewöhnliche Treffen anberaumt hatte, wurde erst dann klar, als die Fragerunde begann. Jeweils zwei oder drei Journalisten konnten eine Frage stellen, die der Staatsratsvorsitzende dann mit weitschweifigen Ausführungen beantwortete, die keine Nachfragen zuließen.
    Plötzlich begannen die Journalisten wie wild mitzuschreiben, als Ulbricht erklärte, dass sich der Charakter der »Freien Stadt Westberlin« dramatisch verändern werde, wenn die DDR erst einmal, ob mit oder ohne westliche Zustimmung, einen Friedensvertrag mit der Sowjetunion abgeschlossen habe. »Wir halten es für selbstverständlich, dass die sogenannten Flüchtlingslager in West-berlin geschlossen werden und die Personen, die sich mit dem Menschenhandel beschäftigen, Westberlin verlassen.« Natürlich würden dann auch die »westdeutschen, amerikanischen, englischen und französischen Spionageagenturen« verschwinden, die bisher von Westberlin aus operierten. Der Verkehr zwischen beiden Teilen Deutschlands müsse durch ein Gesetz geregelt werden, wie es internationaler Praxis entspreche. Bürger der DDR dürften sich nur dann in

Weitere Kostenlose Bücher