Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Westdeutschland niederlassen, wenn sie sich »die Erlaubnis des Innenministeriums der DDR« beschafften. Annamarie Doherr, die Korrespondentin der linksliberalen Frankfurter Rundschau, hakte jetzt nach. Sie interessierte sich dafür, wie Ulbricht bei einer offenen Ostberliner Grenze den Verkehr zwischen den beiden Teilen überhaupt kontrollieren wollte. Sie fragte also: »Herr Vorsitzender! Bedeutet die Bildung einer Freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?« Diese Konsequenzen konnten ja auch ein Krieg sein, wie alle Anwesenden wussten.
Ulbricht verzog keine Miene, und seine kalten Augen verrieten keinerlei Erregung. Dann antwortete er in ruhigem Ton: »Ich verstehe Ihre Frage so, dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer zu errichten.« Er machte eine kleine Pause, blickte vom Podium auf die kleine, rundliche Frau Doherr hinunter und fuhr dann fort: »Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.«
Zum ersten Mal hatte Ulbricht das Wort »Mauer« in den Mund genommen, obwohl die Korrespondentin selbst eine solche Grenzbefestigung gar nicht erwähnt hatte. 7 Ulbricht hatte seine Karten aufgedeckt, aber kein anwesender Journalist würde das in seinem anschließenden Bericht erwähnen. Sie hielten es wohl alle für eines der Ablenkungsmanöver, für die Ulbricht bekannt war.
Um 18 Uhr konnten sich die Ostdeutschen im DDR-Staatsfernsehen Chruschtschows eigenen Bericht über die Ergebnisse des Wiener Gipfels anschauen. 8 Dabei erklärte der Sowjetführer ohne Umschweife: »Der Abschluss eines Friedensvertrags mit Deutschland darf nicht länger verschoben werden.« Mit voller Absicht wurde danach um 20 Uhr eine bearbeitete Aufzeichnung der Pressekonferenz Ulbrichts gesendet.
Die Folgen waren sofort spürbar. Trotz einer verstärkten Überwachung der Zonengrenze durch die DDR-Grenzpolizei brach die stärkste Flüchtlingswelle des gesamten bisherigen Jahres los. In einer Woche meldeten sich 4770 Personen in den Aufnahmelagern in Berlin-Marienfelde und im Bundesgebiet. Auf ein Jahr hochgerechnet wären das fast 250 000 der 17 Millionen Einwohner der DDR, die ihrem Land den Rücken kehren würden. Die Stimmung, die nach Ulbrichts Aussagen sein ganzes Land ergriff, bekam bald einen Namen: »Torschlusspanik«. 9
Einige damalige Kommentatoren glaubten, die neue Flüchtlingswelle zeige, dass Ulbricht die möglichen Auswirkungen seiner Pressekonferenz falsch berechnet habe. Wahrscheinlich war das Ganze jedoch ein Schachzug Ulbrichts. Obwohl Chruschtschow in der Zeit davor immer öfter auch öffentlich seine Entschlossenheit bekundet hatte, das Berlin-Problem endlich aus der Welt zu schaffen, wusste der ostdeutsche Parteichef sehr genau, dass der Sowjetführer seine nächsten Schritte nach dem Erfolg von Wien noch nicht voll durchdacht hatte.
Insofern war Ulbrichts Vorgehen wohlüberlegt. Indem er kurzfristig seine Situation verschlechterte, würde er Chruschtschow die untragbaren Auswirkungen einer weiteren Verzögerung der notwendigen Aktionen umso begreiflicher machen.
Ulbricht war entschlossen, den Schwung des Wiener Gipfels zu nutzen.
WEISSES HAUS, WASHINGTON, D.C.
FREITAG, 16. JUNI 1961
In Anbetracht seiner vernichtenden Kritik an Kennedys Handhabung der Schweinebucht-Affäre war Dean Acheson geschmeichelt und auch ein wenig überrascht, als Kennedy sich erneut um Rat an ihn wandte. Die Fragen des Präsidenten waren so einfach wie schwer zu beantworten: Wie sollte er Chruschtschow nach seinem Wiener Ultimatum entgegentreten? Wie ernst sollte der Präsident die Berlin-Drohungen des Sowjetführers nehmen – und was sollte er deswegen tun?
Achesons Beziehung zu Kennedy war mit der Zeit immer vielschichtiger und komplizierter geworden. 10 Die beiden Männer hatten sich in den späten 1950er Jahren näher kennen gelernt, als der damalige Senator Kennedy seinen Nachbarn in Georgetown gelegentlich von Sitzungen im Kapitol nach Hause gefahren hatte. Der junge Kennedy wusste allerdings nicht, wie sehr Acheson Kennedys Vater verabscheute. Dies lag nicht nur an dessen Unterstützung einer
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