Berlin Alexanderplatz: Die Geschichte von Franz Biberkopf (German Edition)
keine Ohren. Bist ja nich geboren, Mensch, bist ja garnich uff die Welt jekomm. Du Mißgeburt mit Wahnideen. Mit freche Ideen, Papst Biberkopf, der mußte geboren werden, damit wirs merken, wie alles ist. Die Welt braucht andere Kerle als dir, hellere und welche, die weniger frech sind, die sehen, wie alles ist, nicht aus Zucker, aber aus Zucker und Dreck und alles durcheinander. Du Kerl, dein Herz her, damit es aus mit dir ist. Damit ichs in den Dreck schmeiße, wos hingehört. Die Schnauze kannste vor dir behalten.«
»Laß mir doch noch. Laß mir besinnen. Noch ein bißchen. Ein bißchen.«
»Dein Herz raus, Kerl.«
»Ein bißchen.«
»Ich hols mir, du.«
»Ein bißchen.«
Und jetzt hört Franz das langsame Lied des Todes
Blitzen Blitzen Blitzen, das Blitzen Blitzen hört auf. Hacken Fallen Hacken, das Hacken Fallen Hacken hört auf. Es ist die zweite Nacht, die Franz geschrien hat. Fallen Hacken hört auf. Er schreit nicht mehr. Blitzen hört auf. Seine Augen blinzeln. Er liegt steif. Das ist ein Raum, ein Saal, Menschen gehen. Du mußt den Mund nicht zukneifen. Sie gießen ihm Warmes in den Mund. Kein Blitzen. Kein Hacken. Wände. Bißchen, ein bißchen, was denn. Er schließt die Augen.
Und wie Franz die Augen zugemacht hat, fängt er an, etwas zu tun. Ihr seht nicht, was er tut, ihr denkt bloß, der liegt und vielleicht ist der bald hin, der rührt ja kein Finger. Der ruft und zieht und wandert. Der ruft alles zusammen, was zu ihm gehört. Er geht durch die Fenster auf die Felder, er rüttelt an den Gräsern, er kriecht in die Mauselöcher: Raus, raus, was is denn hier, is was von mir hier? Und schüttelt an dem Gras: Raus aus dem Kartoffelsalat, wat soll der Quatsch, hat alles keen Sinn, ich brauch euch, ich kann keenen beurlauben, bei mir is zu tun, mal lustig, ich brauch alle Mann.
Sie gießen ihm Bouillon ein, er schluckt, erbricht nicht. Er will nicht, er möchte nicht erbrechen.
Das Wort des Todes hat Franz im Mund und das wird ihm keiner entreißen, und er dreht es im Mund, und es ist ein Stein, ein steinerner Stein, und keine Nahrung quillt daraus. In dieser Lage sind zahllose Menschen gestorben. Es hat da kein Weiter für sie gegeben. Sie haben nicht gewußt, daß sie sich nur noch einen einzigen Schmerz antun müssen, um weiterzukommen, daß nur ein kleiner Schritt nötig war, um weiterzukommen, aber den Schritt konnten sie nicht tun. Sie wußten es nicht, es kam nicht rasch, nicht rasch genug, es war eine Schwäche, eine Verkrampfung von Minuten, Sekunden, und schon waren sie hinüber, wo sie nicht mehr Karl, Wilhelm, Minna, Franziska hießen – satt, finster satt, rotglühend in Wut und Verzweiflungsstarre schliefen sie hinüber. Sie wußten nicht, sie brauchten nur noch weißzuglühen, dann wären sie weich geworden, und alles wäre neu gewesen.
Herankommen lassen – die Nacht und sie kann noch so schwarz und wie nichts sein. Herankommen lassen die schwarze Nacht, die Äcker, auf denen der starre Frost liegt, die hartgefrorenen Chausseen. Herankommen lassen die einsamen Ziegelhäuser, aus denen das rötliche Licht kommt, herankommen lassen die frierenden Wanderer, die Kutscher auf den Gemüsewagen, die in die Stadt wollen, und die Pferdchen davor. Die großen, flachen, stummen Ebenen, über die die Vorortzüge und die D-Züge fahren und im Dunkel weißes Licht nach beiden Seiten auswerfen. Herankommen lassen die Menschen auf dem Bahnhof, der Abschied des kleinen Mädchens von seinen Eltern, es fährt mit zwei älteren Bekannten, über das große Wasser geht es, wir haben schon Tickets, aber Gott son kleines Mädchen, na, sie wird sich schon drüben einleben, soll brav bleiben, dann wird es gut gehen. Herankommen lassen und aufnehmen die Städte, die alle auf einer Strecke liegen, Breslau, Liegnitz, Sommerfeld, Guben, Frankfurt an der Oder, Berlin, der Zug fährt durch sie von Bahnhof zu Bahnhof, die Städte tauchen in den Bahnhöfen auf, die Städte mit ihren großen und kleinen Straßen. Breslau mit der Schweidnitzer Straße, mit dem großen Ring der Kaiser-Wilhelm-Straße, Kurfürstenstraße, und überall sind Wohnungen, in denen sich die Menschen wärmen, sich lieb ansehen, kalt nebeneinandersitzen, Dreckbuden und Kneipen, wo einer Klavier spielt, Puppchen, so ein oller Schlager, als wenn es 1928 nichts Neues gibt, zum Beispiel: »Madonna, du bist schöner« oder »Ramona«.
Herankommen lassen – die Autos, die Droschken, du weißt, in wie vielen hast du gesessen, es hat
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