Berlin - ein Heimatbuch
Holländern, noch genauer gesagt vom Londoner Notting Hill Carnival und dem Rotterdamer Zomercarnaval.
Da fällt mir gerade auf, dass ich bisher noch nie Wagen oder Tanzgruppen aus England oder den Niederlanden gesehen habe. Es wurde beim Berliner Umzug weder jemals Tee getrunken noch Käse gerollt. Eigenartig.
Das erkläre ich Karl dann auch beim Frühstück. Wenn er sich schon verhält wie das Kaugummi in der Schuhrille, er also einfach nicht mehr wegzukriegen ist, dann muss er sich in Zukunft auch stärker als bisher weltkluge Monologe von mir anhören.
»Weißt du Karl, ich denke, dass es vor allem die optisch blassen Gesellschaften sind, die einen Karneval der Kulturen haben wollen.«
Karl schaut mich zum ich-weiß-nicht-wie-vielten Male verständnislos an. Irgendwie fehlt ihm das Grundverständnis für meine messerscharfen Gedankengänge.
»Blasse Gesellschaften?«
»Na, die Engländer, die Holländer und wir.«
»Türken sind blass?«
Also, ich weiß nicht. Es stimmt ja, dass ich Halbtürke bin. Aber manchmal vergesse ich diesen osmanischen Hintergrund komplett. Sonst hätte ich wahrscheinlich auch nicht ausgerechnet eine Schwäbin geheiratet. Jedenfalls bin ich irritiert, wenn ich mit der Nase auf meine Herkunft gestoßen werde. Allerdings glaube ich, dass die meisten Berliner, die Angst vor Überfremdung haben, sich nicht vor den Türken, sondern vor den Schwaben fürchten. Berlin ist voll davon. Und wenn jetzt auch noch so ein abwegiges Exemplar wie Karl dazukommt, kann ich diese Furcht durchaus nachvollziehen. Meine persönliche Theorie ist ja, dass Schwabophobiker nur Angst vor der Kehrwoche haben. Völlig zu Recht, wie ich aus eigener leidvoller Erfahrung sagen kann. Die Vierteleschlotzer shampoonieren ihre Häuser von außen und ihre Mülleimer von innen. Davor kann man sich berechtigterweise fürchten.
Von dieser und einigen anderen kleinen Ausnahmen abgesehen, feiern wir Hauptstädter unsere Ausländer: mit eben besagtem Karneval der Kulturen, der – wie ich als Bezirkspatriot an dieser Stelle kurz und stolz vermerken möchte – seinen Ursprung in Neukölln hatte. Und zwar in der Werkstatt der Kulturen, die sich der Pflege der Vielfalt migrantischer und minoritärer Kultur-, Kunst- und Aktionsformen verschrieben hat.
Aber genug der Vorrede. Trotz Karl gehen wir auch diese Pfingsten wieder auf den KdK, wie Insider wie ich den Megaschwof abkürzen.
Der Zug, zu dem mittlerweile jedes Jahr über 4.000 Akteure gehören, setzt sich mittags um 13 Uhr in Bewegung. Das ist euphemistisch ausgedrückt. Eine Schnecke ist im Vergleich zu der Geschwindigkeit des Zuges ein Formel-1-Weltmeister. Letztes Jahr stand ich am Südstern und habe eine geschlagene Stunde nur einen einzigen Wagen angeschaut. Ich wusste nachher alles über die Leute auf dem Wagen, inklusive Kontostand und Sternzeichen. Das macht aber nix – beim Warten auf die nächste Tanzgruppe helfen die vielen Stände mit Caipirinha oder für vernünftige Jungs wie mich mit Apfelschorle.
Der Südstern ist als Standort übrigens ideal – und seit vielen Jahren unser Stammplatz.
Man hat einen tollen Blick, es gibt genug Kneipen in der Nähe, die man bei dringenden Bedürfnissen aufsuchen kann, und der Zug steht hier auch nicht länger als anderswo.
Karl hat natürlich wieder die Weisheit mit Löffeln gefressen. Trotz der markerschütternden Geräuschkulisse, Sambarhythmen! Pfeifen schrillen! Trommeln schlagen!, ist sein schrill tönendes Organ nicht zu überhören. Mit seinem Caipirinha in der blassweiß-feisten Hand sieht er aus wie ein alkoholabhängiger englischer Haushofmeister, der sich in eine Eingeborenenfeier verirrt hat. Und so ähnlich ist es ja auch.
Was mich jedes Jahr aufs Neue wundert, ist, dass so wenig Türken bei dem Umzug mitmachen. Wir sind die größte Migrantengruppe Berlins, aber beim Karneval der Kulturen kaum präsent. Beziehungsweise wie die Deutschen lediglich am Rand zugegen. Nur dass meine Landsleute kein Bier trinken, sondern Tee oder türkische Limo. Dabei schauen sie den halb nackten Tänzerinnen gerne in die, ähm, Augen.
Meine Frau findet wie jedes Jahr alles megatoll. Sie hat den ultrabunten Rock vom vorletzten Badeurlaub aus dem Schrank gekramt. In Kombination mit ihrem süßen Schwangerschaftsbäuchlein sieht das einfach hinreißend aus und ich kann meine verliebten Blicke kaum von ihr abwenden.
Der Lärm ist ohrenbetäubend, aber zum Glück ist dieses Jahr endlich mal wieder gutes Wetter. Die letzten
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