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Berlin - ein Heimatbuch

Berlin - ein Heimatbuch

Titel: Berlin - ein Heimatbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Murat Topal
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Geiseln und hielten diese fünf Tage gefangen. Am Ende solidarisierten sich die Opfer mit ihren Kidnappern so stark, dass sie sie im Gefängnis besuchten und sich für ihre Freilassung einsetzten. Geht es mir als Karls Geisel nun eventuell genauso? Ich verdränge diesen Gedanken ebenso schnell wie die Gedanken an mein noch immer nicht geschriebenes Bühnenprogramm, die mich in stillen schuldbewussten Minuten überkommen, ziehe schleunigst die Hand von seinem Bauch weg und verabschiede mich am Fuß der Reichstagstreppen von meinem Gast. Ach, wäre es doch für immer. Aber der Reichstag ist leider nicht der Londoner Tower, in den englische Herrscher einst lästige Zeitgenossen auf Nimmerwiedersehen hineinwarfen.
    Zu seinem Glück ahnt Karl nichts von meinen Trennungsfantasien. Er marschiert stolz an der weit über 100 Meter langen Schlange der wartenden Besucher links vorbei Richtung Tür, auf der »Angemeldete Besucher« steht. Dabei bleibt er immer wieder stehen, um aufgebrachten Schlangestehern zu erklären, dass er sich nicht vordrängelt. Da er auch in dieser Situation nicht aus seiner Haut kann, erläutert er den Wartenden zusätzlich in epischer Breite und sehr von oben herab, dass man sich anmelden kann, um nicht wie ein Depp stundenlang in der knallheißen Sonne anstehen zu müssen. In der Schlange keimt aggressive Unruhe auf. Es riecht nach Lynchjustiz.
    Mir ist das egal – ich bin kein Polizist mehr und kann mich ja nicht um jeden Zwischenfall kümmern.
    Ich schaue Karl zufrieden hinterher und verplane innerlich die wertvollen Stunden ohne ihn. Schon länger wollte ich mir die aktuelle Ausstellung im Automobil-Forum anschauen. Kaum habe ich ein paar Schritte Richtung Friedrichstraße gemacht, schlägt mir jemand von hinten die Hand auf die Schulter.
    Als ich mich umdrehe, traue ich meinen Augen nicht: Es ist Karl. Jetzt mutiert er endgültig zur Klette.
    »Murat«, sagt er in diesem Ton, den ich so an ihm hasse, weil er mich an meinen ehemaligen Chef erinnert, der bei jeder Gelegenheit zu sagen pflegte: »Herr Tooopaaal, Sie wollen doch noch etwas werden.«
    Jetzt also Karl: »Muuuraaaat, warum kommst du denn nicht mit?«
    Diese Frage habe ich mehr gefürchtet, als dass die wunderbarste Ehefrau von allen mir irgendwann den Koffer vor die Eigenheimtür stellt. Um nicht mit der Wahrheit herausrücken zu müssen, speise ich Karl mit einem kleinen Ablenkungsmanöver ab.
    »Junge, wenn du da jetzt nicht reingehst, bekommst du keinen Platz bei der Führung und dir entgehen alle wichtigen Daten.«
    Bei dem Wort »Daten« reagiert Karl wie ein läufiges männliches Frettchen auf ein williges Weibchen. Es gibt kein Halten!
    »Also gut, dann bis später«, ruft er noch, bevor er diesmal endgültig an der Menschentraube vorbei im Eingang für angemeldete Besucher verschwindet.
    Ich setze meinen gerade so unsanft unterbrochenen Spaziergang fort. Die kleine Abwechslung wird mir guttun. Kein Karl, keine Daten – einfach nur Bäume und Wiesen und ich.
    Nie könnte ich meinem neugierigen Dauergast erklären, was mir damals im Reichstag passiert ist. Damals, das war 2005 – kurz bevor ich meine Arbeit bei der Berliner Polizei aufgab, um hauptberuflich Bühnenkünstler zu werden.
    Ihnen kann ich es ja sagen, es bleibt aber unter uns. Der Bundestag hat zwar seine eigene Polizei, was meinen Chef aber keineswegs an der Umsetzung einer seiner typischen unberechenbaren Ideen hinderte.
    »Herr Tooopal! Sie wollen doch noch etwas werden – da habe ich eine schöne Aufgabe für Sie.«
    Diesmal sollte ich zwei Wochen bei den Kollegen vom Bundestag hospitieren: sozusagen als Nachhilfeunterricht in Staatsbürgerkunde. Offenbar dachte er, das könnte mir als Halbtürken nur guttun. So etwas hatte es zuvor noch nicht gegeben, weshalb alle zuständigen Stellen sich dagegen sträubten – aber was mein Chef sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, das setzte er auch durch. Na gut, dachte ich – mal keine Kreuzberger Kleinkriminellen – das hat ja auch was für sich.
    Die ersten Tage im Reichstag waren ganz in Ordnung. Die Kollegen und ich verstanden uns prima. Wir gingen regelmäßig auf Streife durch die Verwaltungsgebäude. Ich wusste gar nicht, dass das Regierungsviertel so groß ist.
    Es gibt ja nicht nur den Reichstag, sondern auch das Paul-Löbe-Haus, das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus und das Jakob-Kaiser-Haus. Im Paul-Löbe-Haus tagen die Ausschüsse – dort wird die Sacharbeit gemacht, bevor sich die Parlamentarier im Plenum

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