Berlin liegt im Osten (German Edition)
Hand entriss der Finsternis unheimliche Fragmente kaum sichtbarer Menschen. Der Saal war riesig und voll. Der Doofe schoss dem Dicken Pfeile in sein riesiges Hinterteil, als dieser sich bückte, und das ganze Kino grölte. Es war warm und muffig, und gelegentlich kam die große Dame mit der Schürze herein und versprühte Rosenduft. Als der Film plötzlich riss, dachte Ulf, das sei das Ende, und ging hinaus. Der Vater war natürlich noch nicht da, also ging er allein nach Hause. Er klopfte an die Wohnungstür, und es passierte nichts. Er schlug mit den Fäusten, und dann, ganz aufgeregt und verzweifelt, mit den Füßen gegen die Tür. Dann ging er ein paar Schritte zurück, und als er gerade seinen kleinen Körper gegen das Hindernis werfen wollte, öffnete sich dieses, und er stolperte mit seinem verweinten Gesicht in den weichen Schoß der Mutter. Mein Igelchen, was ist los? Die Mutter wischte ihm die Tränen ab und brachte den Jungen ins Zimmer. Zugezogene Gardinen, sachtes Halbdunkel, am runden Tisch unter dem Luster saßen der Vater und noch vier Männer. Sie wirkten angespannt und etwas erschrocken. Und dann sprang Herr Grund, ein Freund des Vaters, plötzlich aus dem Schrank und grollte
grrrrr
. Ulf drückte sich wieder an den Rock der Mutter, und die Männer lachten vor Erleichterung, weil sie dachten, es sei die Gestapo, die Herrn Grund seit Wochen schon auf den Fersen war.
Und Weihnachten? Unser Tannenbaum ist mittlerweile geschmückt. Wie haben Sie damals gefeiert?
Mehrere Tage vorher haben meine Mutter und unser Dienstmädchen alle gläsernen Gegenstände hier geputzt. Auch die Fenster und auch den Luster, jedes einzelne Kristallglassteinchen wurde vom Fliegendreck gereinigt. Der Vater und ich waren in dieser Zeit spazieren, und überall hinter den Fenstern herrschte das gleiche große Purgatorium. Und wenn es so weit war, richtete die Mutter den Gabentisch her, sie legte eine Schürze an und machte sich an den Karpfen. Als wir dann die Krippe aufstellten, rochen ihre Hände immer noch nach dem Karpfen. Oder, besser gesagt, nach einem Fluss und nach dessen Gräsern. Dann machte sie sich schön, und als sie dann dem Vater die Bibel reichte, war an ihren Händen schon frisches Lavendelwasser.
Und was hat er gelesen?
Das Übliche, ich kenne es immer noch auswendig:
Es begab sich aber zu der Zeit
…. Bald unterbricht Herr Seitz sein flüchtiges Rezitativ, entzündet die vierte Kerze auf dem Kranz und reicht mir ein Päckchen: Hier ein Geschenk für Sie. Frohe Weihnachten!
Es sind flauschige Wollhandschuhe, grau, von weißen Schneeflocken umsäumt.
Und ich habe gar nichts für Sie dabei. Es tut mir so leid …
Es macht ja nichts. Die Bescherung gilt ja vor allem Kindern, und Sie sind für mich so etwas wie ein Kind …
Als ich Herrn Seitz sachte an mein Herz drücke, sehe ich, dass uns die Glaskugel reflektiert, und für einen Augenblick scheint mir, dass dieser zusammengeschrumpfte, in der Länge verzerrte Mann mein verlorener Vater ist.
Zweiter Teil
1
Bald nach dem Tod meines Vaters zogen wir zur Oma in eine kaukasische Stadt. Es war Herbst, im Beifußgras unter den Bäumen lagen große, frisch entpuppte Walnüsse – wie kleine Elfenbeinnippes mit verdunkelten Runzeln. Es war eine südliche, protzige Stadt. Blüten und Blattwerk in gewölbten runden Beeten steigerten sich zu verschnörkelten orientalischen Teppichmustern. Es gab cremefarbige, weiß eingefasste stalinistische Paläste. Pompöse Brunnen. Kerzenpappeln. Die allgegenwärtigen Büsten bärtiger Denker ergänzten die antike Erscheinung der Stadt. Das in grünen Baumschwaden versunkene Sanatorium, wo meine Mutter nun arbeitete, glich dem Landhaus eines römischen Patriziers; und der Basar im Zentrum einem Kolosseum. Der Basar war wohl ein paar Nummern zu groß und zu pompös für die kleine Stadt. Aus den Nischen seiner dicken rosa Mauern boten uns weiße Statuen ihre Weizengarben und Weintrauben dar. Der Basar war eine Art Tauschbörse der Stämme: Die Talbewohner brachten ihre Früchte und Kälber hierher, das Bergvolk Käse und Wolle. Die scheuen kleinen Koreaner boten ihre Zwiebeln feil, die kartoffelnasigen Russen ihre Kartoffeln. Und das schlichte, abgetragene Schuhwerk all der dunkelhändigen fleißigen Menschen flickten die Assyrer, sie waren in stickigen, dunklen Buden thronende Nachfahren von Nebukadnezar.
Das prachtvolle Eingangstor zum babylonischen Turm wurde von einer alten Frau in Schwarz bewacht. Sie saß auf einem
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