Berlin liegt im Osten (German Edition)
Unglücksstelle. Mager und erschöpft ruckten sie an den Platten und ähnelten dabei Ameisen, die ein Baumblatt zu bewegen versuchen.
Am meisten verblüffte Herrn Seitz nicht der Tod selbst, sondern die Tatsache, dass der Tod den Menschen so vertraut und gewöhnlich zu sein schien: Nachdem sie die leblos wirkenden Körper auf die Plattform befördert hatten, wandten die gestreiften Männer sich wieder ruhig und gefasst ihrer Arbeit zu. Sie stellten die Platten auf dem Bahnsteig ordentlich auf, befestigten sie mit Draht und kletterten zurück zu ihren toten Kameraden.
Die Frage, woher die Arbeiter kamen, blieb für Ulf ein Rätsel, denn die Männer redeten nicht miteinander. Klar, es gab Krach und Geschrei und Lärm, aus den Mündern dieser Menschen in den gestreiften Anzügen aber kam kein verständliches Wort heraus.
Der bewaffnete Aufseher auf dem nächsten Waggon schrie ununterbrochen, stand aber mit seinen breit gespreizten Beinen da, als ob er festkleben würde. Als der Totenzug langsam davonrollte, blieb auf dem Bahnsteig eine blutige Pfütze zurück. Es war still. Da kam eine Frau in Eisenbahnuniform mit einem Eimer und schüttete Sand über die Stelle.
Einmal wurde Ulf während eines Bombenalarms vom Menschenstrom in die U-Bahn-Station Friedrichstraße gezogen und blieb wie verzaubert stehen. Dann da kroch plötzlich ein Zug aus dem Tunnel. Die Fensterscheiben waren mit Holz vernagelt, bloß in ihrer Mitte gähnten kleine, schießschartenähnliche Öffnungen. Der Zug war sehr laut und sehr langsam und strahlte Unheil aus. Ulf sah sich um. Es waren sehr viele Menschen um ihn. Eine bunte Gesellschaft. Untersetzte oder sehnige Menschen in wattierten Jacken und mit hohen Backenknochen redeten laut untereinander in ihrer grollenden Sprache. Es raschelte auch Polnisch und zwitscherte Französisch. Italiener gab es, mit schmalen und fahlen Gesichtern – die frierenden Hände in den Jackentaschen. Große, hellblonde, gut angezogene Skandinavier. Und dann wieder zerlumpte Ostarbeiter, tageslichtscheue Männer und Frauen, die sich hier unter der Erde ganz wohl zu fühlen schienen. Sie sprachen laut und lachten. Deutsche waren hier kaum zu sehen. Einige von ihnen saßen auf Koffern und Säcken, was den Anschein verstärkte, als wären sie eine unbedeutende, vorbeiziehende Minderheit in diesem Turmbau zu Babel.
Schauen Sie mal auf die Uhr! Wir haben das russische Neujahr beinahe verplaudert! In Moskau ist es zwölf! – Der Sektkorken knallt, die Gläser laufen mit Schaum über.
Frohes neues Jahr, und na zdrovje! – Herr Seitz steht auf, dabei hält er sein Glas vor die Brust, und wenn er Sporen hätte, würde er mit ihnen Funken schlagen.
Za zdo-ro-vje!, rezitiere ich. –
Na
zdorovje sagt man beim Essen, und als Trinkspruch sagt man –
za
zdorovje! Frohes neues Jahr!
Draußen heulen und pfeifen einzelne Böller, Herr Seitz verzerrt sein Gesicht.
Gehen wir raus? – Ich hake mich unter, er schüttelt den Kopf und presst seine Handflächen an die Ohren.
Dann gehen wir eben nicht, gebe ich gleich nach. Ich weiß, dass viele Kriegskinder ihr ganzes Leben lang Feuerwerke hassen. So auch Herr Seitz, der die Jahre des Krieges mit seiner Mutter in der Stadt verbracht hat.
Die ersten Bombardierungen glichen noch einem mächtigen Unwetter, das plötzlich über die Stadt hereinbricht, dann aber auch ganz sicher wieder verschwindet. Die Lage wurde aber Monat für Monat immer schlimmer, im letzten Kriegsjahr stand der Pegel des Gräuels den Berlinern schon bis zu den Nasenlöchern.
Einmal erzählte mir Herr Seitz, dass er als Kind den Fliegeralarm sogar lustig fand. Wenn die Sirenen heulten, eilten alle in den Luftschutzkeller: Ulf Seitz, seine Mutter und die Nachbarn. Unter ihnen auch Frau Krug, die mit ihren vielen, übereinander aufgesetzten Hüten zum Brüllen komisch aussah. Sie hatte auch einen Koffer mit ihren Schätzen dabei und sogar einen Karton mit teuren Kristallgläsern. Der Karton hing in einem Einkaufsnetz mit Ledergriffen. Bei jedem Knall gackerte sie vor Schreck, wie ein aufgebrachtes Huhn. So war es am Anfang, bei den ersten Luftangriffen. Und im April 1945 fürchtete Frau Krug um gar nichts mehr, auch nicht um ihr Leben: Wenn die Sirenen heulten, ließ sie sich widerwillig von gutherzigen Nachbarn in den Keller zerren: ohne Kisten, ohne Hüte, ohne Strümpfe. Zu jenem Zeitpunkt waren an der Ostfront ihre drei Söhne schon gefallen: schöne, groß gewachsene junge Männer, auffallend wohltemperiert
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