Berlin liegt im Osten (German Edition)
vor mir: Mitte dreißig, Konfektionsklasse C beziehungsweise
C&A
.
Lass die Tante durch, höre ich einen der Männer hinter meinem Rücken in meiner Muttersprache sagen. Auf dem übervölkerten Bahnsteig entsteht ein kräftiges Menschengestöber, das sich rasch auflöst. Ich, die Tante, steige die Treppe hinauf. Vor meinem inneren Auge der Rücken des im Winter sehr geschwächten Herrn Seitz, und Herr Struck da oben ist gar nicht mehr zu sehen. Sein Zimmer im Altenheim wird jetzt von einer kleinen, zahmen Dame bewohnt. Sie heißt Erika, und neulich hat sie grüne Geranienschösslinge in die alten Balkonblumenkästen gesteckt.
Die Menge strömt aus unterirdischen Gängen dem Tageslicht entgegen. In der gekachelten Halle vor den letzten Treppen spielt ein russischer Mann Akkordeon. Er tut es mit großer Hingabe – sein Hals streckt sich weit aus dem Kragen, die Mimik seines Gesichts ahmt die Kurven der melancholischen Walzer nach. Es ist ein altes, mit Wehmut um gefallene Soldaten beladenes Stück, das ich aus meiner Kindheit kenne. Ich bleibe stehen und tue so, als ob ich die Werbeposter an der Wand studierte.
Es gibt den Mythos, dass die Russen musikalischer oder, anders gesagt, in ihrer Musikalität spontaner, herzlicher sind als die Deutschen. Mag sein – so denken wir immer über unsere östlichen oder südlichen Nachbarn. Für die Russen sind die Mongolen oder Armenier die eigenen exotischen Fremden, für die Menschen hier sind es die Slawen. Ich werfe ein paar Münzen in den offenen Akkordeonsarkophag. Das Poster über dem Kopf des spielenden Mannes kündigt die Deutschlandtournee von Anna Netrebko und den Soloauftritt des Ballettstars Malachow an. Wo verkehren diese Star-Russen in dieser Stadt? Mit Sicherheit nicht hier, auf dem Alexanderplatz, denke ich, als ich draußen bin.
Es ist März. Bröckelnder Schnee, schmutzige Streugutdünen mit madenartig aufgedunsenen Zigarettenkippen, die in der letzten Station ihres Karmas sind. Kaum aus dem Bahnhof, stecke ich mir eine Zigarette an, obwohl ich mir jeden Morgen schwöre, nie wieder zu rauchen. Ich bleibe neben dem kleinen Wurstmenschen stehen und versuche, in den Taschentiefen das Feuerzeug zu finden. Eine Zigarette nimmt einem Raucher angeblich fünfzehn Minuten seines Lebens; offensichtlich würden sie mir nicht abgehen, diese fünfzehn Minuten des Lebens … Oder vielleicht doch?
Der
Grill Walker
zündet sein Feuerzeug an und hält mir die Flamme hin. Die Welt ist sicher viel schöner, als ich sie mir denke – ich muss nur lernen, sie anders zu sehen. Ich darf meine Augen nicht auf den bespuckten schwarzen Asphalt richten, sondern nach oben: hinauf zum Himmel, der nun auch immer heller wird.
Letzte lästige Wolken gehorchen mir und räumen hastig den Luftraum über meinem Kopf. Die unerwartete Sonne salbt die Kugel des Fernsehturms und fällt über den Alexanderplatz her. Es muss leicht sein, im Frühling ein neues Leben anzufangen. Man muss dafür nur mit dem Rauchen aufhören, sich fürs Tennis oder zum Schwimmkurs anmelden. Am Wochenende macht man dann Ausflüge irgendwohin nach Brandenburg. Und man sollte sich verlieben … Das ist leicht, vorausgesetzt, man liebt sich selbst.
Ich drücke die fast unversehrte Zigarette gegen die orangefarbene Müllbox und überquere den Alexanderplatz, mein zusammengelegter Mantel baumelt an meinem Arm – es ist der erste richtig warme Tag heute. Zu Hause sind die Fenster breit aufgeschlagen. Die gelben Gardinen biegen ihre Rücken wie Katzen nach dem Schlaf.
Gleich kommt Papa. Er wollte uns zum Internationalen Frauentag gratulieren. Marina küsst mich und nimmt mir die Taschen ab.
Uns
sagt sie. Früher machten sie sich gemeinsam einen Kopf, wie sie mir gratulieren können. Marina ist kein Kind mehr, sie ist nun eine Frau. Und ich bin eine Tante.
Es zieht, sage ich, komme zum Fenster und sehe ihn, meinen ehemaligen Mann. Er ist noch ziemlich weit weg, ich erkenne ihn am Mimosenstrauch in seiner Hand. Mein ehemaliger Mann ist groß und breitschultrig. Er hat helle Augen und schmale Wangen, die bei uns im Osten so westlich, so attraktiv gewirkt haben (wir Russen mögen unsere runden Gesichter nicht, sie gelten als asiatisch, als provinziell). Dann kann ich Schuras ergrautes Haar sehen. Diese Locken, und das schöne levantinische Profil eines Propheten. Wenn er spricht, wirft er den Kopf in den Nacken, und du hast das Gefühl, dass er dich von oben herab anschaut, dabei entsteht eine flüchtige Ähnlichkeit mit
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