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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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einen Weg hinunter zu seinen zusammengepressten blassen Lippen gebahnt haben.
    So
war es nicht leichter. Habe ich Ihnen damals erzählt, dass – er wendet sein Gesicht ganz von mir weg –, dass es mit meiner Hilfe passiert ist? Ich wollte, dass er in Berlin bleibt, und habe ihn denunziert … Ich dachte, sie werden ihn bald wieder nach Hause gehen lassen … Er blieb aber verschollen. Für immer.
    Lassen Sie den Korken lieber, sonst fliegt er tatsächlich hoch.
    Stimmt. Kein passendes Thema für unser Fest. – Er richtet sich auf und stellt die Flasche weg.
    Das meinte ich nicht! Ich mache einen Bogen um seinen Stuhl und hocke mich vor ihn. – Ich wollte nicht, dass Sie sich quälen … Vielleicht ist Ihr Vater doch geflohen? Ins Ausland. Sagen wir in die UdSSR oder nach China, und er konnte sich nicht bei Ihnen melden … Wer weiß, in welche geheimen Angelegenheiten er verstrickt war?
    Das ist doch Unsinn! – Herr Seitz verzieht sein Gesicht, ich aber kann nicht aufhören zu reden:
    Mein Großvater galt auch von Kriegsanfang an als verschollen, dann aber kehrte er zurück. All die Kriegsjahre hat er sich hier irgendwo in Deutschland durchgeschlagen. Während ich rede, versuche ich, Halva in Würfel zu schneiden, es krümelt aber unter dem Messer und zerbricht, sodass ich Teelöffel aus der Anrichte hole.
    War er ein Kriegsgefangener?
    Nein. Ein Zwangsarbeiter, obwohl er als Soldat in Gefangenschaft geraten war und als solcher in ein spezielles Lager gehörte. Vielleicht hat er sich als Zivilist getarnt oder war ein Deserteur – das ist mir nicht bekannt. Ich weiß nur, dass er zu Kriegsende als Zwangsarbeiter in einer Stadt in Süddeutschland war. Die Amerikaner erlaubten ihm und vielen anderen auszureisen. So ist er nach Australien geraten. Mögen Sie Halva?
    In Berlin gab es auch viele Zwangsarbeiter damals.
    Wie hätte das auch ausgesehen? Scharen von Untermenschen mitten in der Hauptstadt eines rassistischen Reiches – eine absolut groteske Vorstellung.
    Ja, jetzt scheint es tatsächlich so. Unfassbar. Damals aber waren sie einfach da, überall und nirgendwo, sagt Herr Seitz und schiebt die Schale mit dem unberührten Halva von sich weg.
    Ulf!, schrie die Mutter. Schämst du dich nicht? Warum habt ihr das getan?
    Der Otto hat tatsächlich einem Ostarbeiter von seinen Stullen zu essen gegeben.
    Ihr wisst doch, wie streng Herr Knorr ist. Er wird Otto der Schule verweisen, es kann auch was Schlimmeres passieren!
    Es waren Russen, und die sind doch Kriegsfeinde, Schweinehunde!
    Sie sahen tatsächlich erbärmlich aus, die Ostarbeiter, die in den Baracken auf dem Rennbahngelände in Weißensee hausten. Eigentlich durften sie aus ihrem Gehege nicht heraus, waren aber in der Stadt durchaus präsent. Bei den Aufräumungsarbeiten nach den Bombenangriffen oder auf vorbeihuschenden LKWs zusammengepfercht, wie eine billige Ladung. Wenn sich die zerlumpten Gespenster durch die Stadt bewegten, wählten sie immer verlassene Straßen und hielten sich an die schattigen Seiten. Manchmal schlichen sie in der Dämmerung zwischen die Mülltonnen der Nachbarhäuser.
    An einem warmen Sonntag im April spielten Ulf und seine Freunde im Park Friedrichshain. Um einen biegsamen Zweig für einen Bogen zu suchen, drängte sich Ulf durch das Gebüsch und sah plötzlich fünf Russen auf der Wiese. In ihren abgewetzten und blassen grün-grauen Klamotten waren sie kaum sichtbar und schienen im Begriff zu sein, im Kreislauf der Natur wieder zu verschwinden. Sie hatten dunkle, steife Hände und rauchten stinkenden Tabak. Einige streckten ihre entblößten bleichen Füße der zärtlichen Sonne entgegen. Ganz nah vor seinen Augen sah Ulf einen großen Zehennagel, der blau unterlaufen war und wie eine schwarze Perle schimmerte.
    Diese parallele Schattenwelt, früher fast unsichtbar, wucherte im Verlauf des Krieges, sie quoll aus allen Ritzen und Löchern. Manchmal sah Ulf aus dem S-Bahn-Waggon Menschen in gestreiften Anzügen, die mit Werkzeugen oder Karren irgendwelche Arbeiten verrichteten. Eine Weile dachte er sogar, es sei schlicht eine Arbeiteruniform. Zum Greifen nah sah er diese Menschen einmal auf der offenen Plattform eines Güterwaggons in Köpenick. Sie sollten große Betonplatten ausladen, die auf der Plattform gestapelt waren. Als die Drahtbänder gelöst wurden, rutschten die Platten wie Teile eines Kartenhauses plötzlich weg und rissen drei Häftlinge mit. Die anderen sprangen vom Waggon und scharten sich um die

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