Berlin liegt im Osten (German Edition)
in Gemüt und Erscheinung.
Alle drei hatten mit Glanz das Elitegymnasium Zum Grauen Kloster absolviert. Das schien aber der früh verwitweten und wohlhabenden Frau Krug nicht genug, und so kamen abwechselnd ein Englisch- und ein Französischlehrer zu Krugs nach Hause. Sie selbst, eine tüchtige Witwe, war nie im Ausland, schwärmte aber von fremden Ländern und einer Diplomatenkarriere für ihre Söhne. Wenn die Nachbarn ihre Bemühungen um die Bildung der drei Söhne bewunderten, lachte sie gutmütig und breitete ihre reich beringten, gepflegten Hände aus:
Deutsche Exportware, dreifach, erste Sorte!
Nun lagen sie alle drei irgendwo im fernen Ausland. Die Todesmeldungen folgten in neunmonatigem Abstand aufeinander, und diese höhnische Paradoxie schien einer altgriechischen Tragödie entsprungen zu sein, wie auch die tragische Heldin selbst – dunkles formloses Kleid und graues zerzaustes Haar. Frau Krug schlug mit ihrer mageren, jetzt ringlosen Faust gegen die Wand des übervölkerten Bunkers, und die Nachbarn – als Chor – starrten sie an. Sie waren aber nicht imstande, dem Publikum die Handlung zu erläutern, da vor ihren Mündern die feuchten Lappen hingen, die sie gegen den giftigen Ruß schützen sollten.
Ich hasse Feuerwerke. Ich würde wie ein Hund lieber unter das Bett kriechen. – Herr Seitz geht zum Fenster und zieht die Gardinen zu. – War das Ihr Freund?
Was für ein Freund?
Vor drei Tagen standen Sie da, vor dem Trödler, mit einem Mann. Und gingen dann davon …
Nein, den Mann kenne ich nicht. Wir standen nur da, eine Weile, dann ging ich weiter, und er ist geblieben.
Ich dachte, Sie seien zusammen, da er Ihnen gleich hinterher ging.
Er ging mir hinterher? Das habe ich gar nicht bemerkt …
Es knallt und heult wieder. Die helle Gardine verfärbt sich mit roten Lichtflecken. – Es ist so weit! Zwölf! Wieder schenke ich uns Sekt ein. Jetzt ist es ein richtiges, unser neues Jahr!
Wir stoßen mit unseren Gläsern an und schauen uns in die Augen. Dabei denke ich an den Mann mit dem Poeten-Schal, wie er mir auf dem Fuß folgt, und bin jetzt eine freche Filmdiva, die alle um sich herum ganz nebenbei mit Glück beschenken kann. Ich schiebe die Gardine leicht zur Seite: Die Trödelvitrine ist dunkel. Der Großteil der Fenster gegenüber auch. Vom riesigen Poster über der Brachparzelle links leuchtet die halbnackte Brünette mit dem Joystick:
Spiel mit ihm!
Der Himmel explodiert und verfärbt sich blutrot. Ich trete ganz nah an Herrn Seitz heran.
Frohes neues Jahr!, flüstere ich und küsse ihn auf den Mund.
Dritter Teil
1
Es ist März. Ich sitze in der U-Bahn, die Berlin von Süden nach Norden durchquert.
Der Zug besteht aus einem langen, durchgehenden Waggon, der in Kurven seitwärts schwenkt – ein sich schlängelndes, mit Menschen überfressenes Reptil. Plötzlich teilt sich die Menge und weicht einem Gestanktornado aus, wie das Meer vor dem Stamm Mose: Zahnlos, nagellos, barfüßig, verpisst zieht ein Mensch durch den Waggon. Man würde gerne seinen Obolus entrichten, der Gedanke aber, dass der Stinkende für eine Weile stehen bleiben könnte, erstickt den Impuls zu helfen im Keim. So zieht er mit leeren Händen weiter, und die Menge schließt sich zögernd hinter ihm. Er geht sehr langsam, als ob er gleich unwiederbringlich zerfallen würde. Hat Gott für dieses Menschenkind die Rolle eines Hiobs vorgesehen, oder hat Er ihn einfach übersehen? Unsere ermüdeten Augen meiden das Gegenüber, hastige Finger tippen Morsebotschaften auf Displays, die Ohren sind mit Kopfhörern versiegelt.
Ich drücke die Augenlider zusammen und höre auf der Sitzbank hinter meinem Rücken zwei russische Männer reden.
Also Speck, Zwiebeln, Würstchen … Auch Champignons dazu – alles anbraten, Sauerkraut rein, dünsten, fertig ist der Bigos.
Aber ich sage dir, keinen Speck, sondern Katerbauch! Und ich mache es ohne Champignons.
Ich aber nehme immer Speck. Ich kenne keinen Katerbauch oder so.
Du, es muss Katerbauch sein! Das ist auch Speck, aber durchwachsen, mit kleinen Knorpelchen. Gibt es bei
Lidl
oder
Netto
.
Ich versuche mir vorzustellen, wie lästig und gemein unsere Sprache in den Ohren derer klingen muss, die kein Russisch verstehen: Katerbauch, blablabla, Katerbauch, blablabla, Speck, Bigos, Lidl, Netto, blablabla. Ein lesendes Mädchen schlägt sein Buch zu. Es heißt ‚Frequenzen‘.
Alexanderplatz. Wir stehen alle auf und drängeln uns zu den Türen, die russischen Männer direkt
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