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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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einem arroganten Vogel.
    Wir kennen uns seit mehr als zwanzig Jahren. Damals redete er nur über Werner Herzog und Albert Camus. Jetzt redet er nur über Geschäfte und Profite, und der Rest der Welt, ich inklusive, ist bloß eine Fußnote dazu. Ich öffne die Tür, und er bleibt eine Weile an der Schwelle stehen. Der Sonnenschein hinter seinem Rücken blendet mich, ich sehe sein Gesicht nicht.
    Hallo, Lena. Schura teilt den Mimosenbesen in zwei Teile und reicht mir eine Hälfte. Alles Gute zum 8. März! Du siehst aber gut aus! Haare gefärbt?
    Wir haben uns an der Leningrader Uni kennengelernt. Die feinen Garderobedamen dort waren höflich, wie Baronessen. Die Dozentinnen dagegen hatten tiefe, raue Stimmen, weil sie filterlose Papirossy rauchten. Aus den großen Aula-Fenstern konnte man das schwarze Wasser der Newa sehen, in der im Frühling schmutzige, grobporige Eisschollen laichten. Und die Sonne über unserem Imperium ist schon damals ihrem Untergang entgegengeeilt.
    In unserer provinziellen Stadt im Süden hatten wir das Anrücken der wirren Zeiten verschlafen, aber als ich nach Leningrad kam, drehte sich dort das Rad der Perestroika schon in vollem Schwung. Die Telefonautomaten gingen kaputt, in den Brotlaiben wuchsen luftige Höhlen, das Toilettenpapier wollte nicht an der perforierten Stelle reißen, und auch die Streichhölzer streikten. Das Geld wurde leicht und trügerisch, die Nächte waren lang und labyrinthisch.
    Diese dekadente Metropole hat mir sofort den Kopf verdreht. Mein Leben, das sich im Süden wie eine gravitätische, langsame Aufeinanderfolge etwas verwischter Daguerreotypien ausrollte, beschleunigte sich in Leningrad rasant. Heute sehe ich mich in dieser Zeit wie einen hyperaktiven Schwarzweiß-Filmhelden, der alles in großer Eile zu tun scheint, und der sich ausschließlich im Lauftempo bewegt. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was wir da alles studiert haben. Ich kann mich aber gut an die Pausen erinnern, an diese Brownsche Molekularbewegung: Wir teilten uns in kleine Gruppen, gingen auseinander, formierten unsere Reihen neu und schwärmten wie Magnetspäne um die Cafeterien in den unterirdischen Gängen des alten Gebäudes.
    Schura und ich begegneten uns auf dem Parnass, einem Podium am oberen Absatz der Haupttreppe, wo die dicken glatten Holzbänke und die Aschenbecher standen. Er saß auf einer Bank, deren Lehne ein S-Profil hatte, und rauchte. Ich stieg die Treppe empor und konnte meine Augen nicht von dem schönen Mann losreißen. Ich stolperte gegen die letzte Stufe und landete ihm zu Füßen. Ich heiße Alexander, sagte er. Oder Schura, wie mich alle hier nennen.
    Nach der Uni suchten wir, frisch Verliebte, nach Zweisamkeit und fanden sie nicht. Die Winterabende fristeten wir im plüschigen Schoß des kleines Kunstkinos, der Frühling brachte Streifzüge durch die bevölkerten weißen Nächte – Gold auf Lasur, multipliziert in den unzähligen schwarzen Gewässern. Unsere Liebe wucherte, füllte uns bis zum Rand und machte uns verrückt. Mit ihr einher reifte der Aufruhr. Die Dinge kränkelten und die Menschen gingen kaputt. Sie zahlten ihre Schulden nicht zurück, schlugen sich gegenseitig mit selbst gebastelten politischen Plakaten auf den Kopf, aßen viel und gierig und legten sich närrische Kleider an – unruhige, grelle Farben waren bevorzugt.
    Die Stadt häutete sich, wechselte ihren Namen – im revolutionären Sankt Petersburg waren Brot und Spiele angesagt. Die Theater, Pionier- und Kulturhäuser und das Planetarium verwandelten sich in Diskotheken, wo die Jugend barfüßig auf den Scherben tanzte, in die das Imperium zerfiel. Die Alten sahen den Weltuntergang kommen und kauften Lebensmittel auf Vorrat. Das Essen quoll aus den Kühlschränken, füllte die Wohnungen bis zum Rande und okkupierte die Balkons. Improvisierte Speisekammern entstanden zwischen den trüben Fensterscheiben, dort stauten sich Tüten aus blutbeflecktem Zeitungspapier – der Essenspegel stieg mit der Perestroika, die sich beschleunigte und sich gelegentlich in einem kleinen Putsch entlud.
    Nach Abschluss des Studiums reisten wir, mein Geliebter und ich, mit Zelten die Schwarzmeerküste entlang und brachten in unser Petersburger Zimmer eine kleine Baby-Palme und einen kleinen weißen Welpen mit. Die Palme steckte in einer halbierten Plastikflasche und verreckte bald in ihrer provisorischen Unterkunft. Der Welpe Flaumi wurde ebenfalls nie erwachsen – im gleichen Sommer noch starb er an Staupe. Das

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