Berlin liegt im Osten (German Edition)
gehe, ärgert sie sich.
Du hast doch für die Karte bezahlt und dich da mit Larissa und den anderen verabredet!
Na und? Sie werden gar nicht merken, dass ich nicht da bin.
Ich sage dir aber: Sie werden alle auf dich da warten!
Ich will nicht mehr das tun, was die anderen von mir erwarten! Ich tue das, worauf ich Lust habe.
Du liebst doch nicht etwa diesen Opa?
Aber nein!, erwidere ich energisch auf Marinas Frage. Vielleicht zu energisch. Na so was! Ich fühle mich einfach wohl bei ihm, willkommen. Ich bin was Besonderes für ihn …
Und das schmeichelt dir?
Ja, wenn du so willst. Wir alle wollen doch gehört und bewundert werden. Du etwa nicht?
Wir wollen Silvester auf Russisch feiern, daher eile ich in einen russischen Laden – ich brauche Kaviar, eingelegte Pilze und etwas Mayonnaise für einen Salat
Olivje
, die Krönung einer festlichen russischen Mahlzeit. Das Geschäft heißt
Rodina
, ist klein wie eine Schatzschatulle und prallvoll. Wonach sehnen sich ausgewanderte russische Seelen? Im Schaufenster tummeln sich Dutzende Sorten Vodka, Gottesmütter im Taschenformat, Holzlöffel und geblümte Teekannen. In den Regalen liegen Buchweizen, Sauergurken, Stockfisch und Auberginenkaviar, und auf einem Tablett neben der Kasse füllige, noch warme und seufzende Piroggen, die Larissa, die Ladenbesitzerin, selbst bäckt. Hallo, meine Liebe, schreit sie hinter ihrer Theke hervor. Gerade berät sie einen deutschen Kunden, stolz und souverän, so wie eine Reiseführerin einem westlichen Touristen die Schätze der Eremitage präsentieren würde.
Rodina
ist mehr als ein Laden, es ist auch ein kleiner Treffpunkt oder Salon, denn am hohen runden Tisch in der Ecke hängen oft ein Paar Gäste herum: sie plaudern oder blättern in den bunten Zeitungen, oder sie naschen an den kalten Vorspeisen, die Larissa eines naherückenden Verfallsdatums wegen für ihre Stammkunden umsonst zum Wodka serviert. Diesmal hockt meine alte Bekannte Olja am einbeinigen Tisch. Sie ist in meinem Alter und rund wie ein O. Sie toupiert ihr Haar hoch und trägt sehr hohe Absätze. Die breite Kapuze, eingefasst mit kaviarrot gefärbtem Hasenfell, liegt majestätisch auf ihren starken Schultern – kaum zu glauben, dass diese Frau mehrmals illegal die Grenze überquert und mehrere Jahre in einem Puff gearbeitet hat, aus dem sie dann durchs Fenster geflohen ist. Wie in einem Abenteuerroman knotete sie zwei Laken zusammen und seilte sich vom ersten Stock auf den Gehsteig ab. Wenn ich mir vorstelle, wie die korpulente Olja an dem Seil wie ein Kater auf einer Gardine baumelt, muss ich immer lächeln, obwohl ihre Geschichte eigentlich sehr traurig ist.
Olja lebt jetzt mit Willy, einem deutschen Unternehmer, hat aber immer noch keine Aufenthaltspapiere und putzt in besseren russischen Haushalten. Aus Langeweile, sagt sie, und um unter Menschen zu sein. Larissa und ich lästern über den unmöglichen Willy, und wir rätseln, warum er sie nicht heiratet – will er seinen runden deutschen Schatten nicht mit seiner russischen Geliebten teilen?
Olja springt vom Hocker, reckt sich und schnappt ihre vollen Taschen.
Muss gehen, gleich kommt meiner nach Hause. Olja nennt ihren Willy zärtlich
den Meinen
und betont gerne, dass er sie gut versorgt und sogar fürsorglich ist. In der Rolle einer Konkubine fühlt sie sich offensichtlich sehr wohl.
Es ist Silvesterabend, wir, Herr Seitz und ich, schnippeln gekochte Kartoffeln, Mohrrüben, Fleischwurst, Eier und saure Gurken und plaudern. Er ist ein passionierter Liebhaber der Geschichte, und es macht Spaß, mit ihm darüber zu reden.
Ich habe keinen Schimmer, was in der Zeit nach dem Zerfall Roms in Europa passiert ist – satte tausend Jahre als ein dunkles Loch. In Marinas Schulbüchern steht auch nicht viel – Vandalen, Alemannen, Hunnen und viele andere kommen nach Europa, dann taucht Karl der Große auf, ein Superstar, dann gibt es die Kreuzritter und dann sofort das Mittelalter mit seinen Burgen. Das sage ich und schaue Herrn Seitz auf die Finger: Können Sie vielleicht die Würfel etwas größer schneiden?
So? Oder noch größer? Er nimmt mit seinem Messer Maß an der Mohrrübe.
Zuerst mussten all die Neuankömmlinge sich miteinander und mit den Alteingesessenen arrangieren, und erst aus diesem Chaos haben sich die heutigen europäischen Nationen herausgebildet. Die neuen Reiche wucherten, teilten sich, flossen ineinander, und bis zum Ausklang des ersten Millenniums herrschten in Westeuropa
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