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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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unübersichtliche Verhältnisse. Interessant aber, dass bei all diesen Ereignissen die Migration die entscheidende Rolle spielte.
    Von Osten nach Westen?
    Größtenteils ja. Oder genauer gesagt, hin zu den römischen Grenzen. Denn je weiter das Imperium sich ausdehnte, desto mehr Völker wussten über seinen Reichtum Bescheid und wollten natürlich daran teilhaben. Es entstand ein Sog rund um die Grenzen Roms, und dann später um Konstantinopel, wie um einen großen Trichter, und das setzte den ganzen Osten in Bewegung.
    Glichen die damaligen wirtschaftlichen Verhältnisse schon den heutigen? Ich meine, war der Osten schon damals … ärmer?
    Allem Anschein nach ja. Nicht unbedingt ärmer, aber … Während Herr Seitz nach richtigen, milden Worten sucht, nimmt er seine Brille mehrmals ab und setzt sie wieder auf die Nase. – Im europäischen Osten war man immer weniger als bei uns auf pragmatische Aufklärung und technischen Fortschritt aus, sagen wir es so.
    Eigentlich will ich ihm widersprechen, mir kommen aber keine schlagkräftigen Argumente in den Sinn. Im Gegenteil: Ich erinnere mich, wie ich im Zug von Berlin nach Moskau aus dem Fenster schaute und mit eigenen Augen sehen konnte, wie mit jedem Kilometer weiter östlich der sachliche und nüchterne Wohlstand schwindet. Morsche Hütten wechseln sich mit kitschigen Villen ab, deren Tore kleine Gipslöwen schmücken oder mannshohe Vasen. Öde Dickichte scheckiger Plattenbauten und daneben eine nagelneue Kirche mit goldenen Turbanen, schreiend bunt verziert. Diese kindische Gier nach Luxus, oft um jeden Preis. Ich schließe mich dem Urteil von Herrn Seitz an, sage aber nichts. Stattdessen kippe ich die grünen Erbsen in die Salatschale, füge spezielle russische Mayonnaise von Larissa dazu und mische alles durch – fertig ist unser
Olivje
-Salat.
    Als Herr Seitz eine Dose Kaviar öffnet, fällt ihm ein, dass im 14. Jahrhundert der Kaviar auf den Tischen der armen Byzantiner so banal war wie die Heringe im damaligen, neu geborenen Berlin.
    Dann erzählt er, dass es im Schwarzen Meer früher nur so wimmelte von Fischen. Die Schwarzmeermakrele, zum Beispiel, bewegte sich in sehr dichten Scharen, so dass man sie einfach aus dem Wasser schöpfte, um das Volk zu sättigen. Das Bild dieses strategisch wichtigen Fischs wurde sogar auf byzantinische Münzen geprägt. Aber auch die alten Griechen wussten den Reichtum des damaligen Schwarzen Meeres zu schätzen. Ihre gefährlichen Entdeckungsreisen galten nicht nur dem mythischen Goldenen Vlies, sondern auch so prosaischen Dingen wie Fischen, die sie an den weiten Küsten gleich dörrten. Später beackerten sie die an die neuen Siedlungen grenzenden Steppen, um Weizen anzubauen, und waren dabei auf die Zusammenarbeit mit einheimischen Stämmen wie den Skythen angewiesen …
    Wenn Herr Seitz mich auf diese Art unterhält, wirkt er männlich, selbstsicher, anziehend. Ich fühle mich wie der durch die Scheherazade hypnotisierte König – die Zeit vergeht schnell.
    Es ist kurz vor zehn. Wir haben schon vom Salat gekostet und die Extremitäten der gebratenen Ente vernichtet. Der Rumpf steht noch in der Mitte des Tisches.
    Warum heißt der Salat
Olivje
?, fragt Herr Seitz und schenkt Riesling in unsere Gläser ein.
    Der Franzose, der im neunzehnten Jahrhundert ein Restaurant in Moskau führte, hieß Olivier. Nach dem Ur-Rezept jedoch fügt man auch das Fleisch von Krebsen, Kapern, Blattsalat und Kaviar bei. Und anstatt Fleischwurst schnippelte man Rebhuhnfleisch und Kalbszunge hinein. Das, was wir hier essen, ist eine spartanische, sowjetische Variante.
    Wir haben uns vorgenommen, die Sektflasche um zehn aufzumachen, wenn die Turmuhr im Kreml schon Mitternacht schlägt. Als ich unsere Festgläser aus der Anrichte hole, bleibt mein Blick länger auf einem alten Foto hängen. Ich wische mit dem Zeigefinger eine flauschige Staubschicht vom Holzrahmen und drehe mich zu Herrn Seitz:
    Ein schöner Mann war Ihr Vater. Diese Plisseehaarwelle, wie Burt Lancaster. Wann ist er umgekommen?
    1943 verhaftet und galt seitdem als verschollen. Ich weiß nicht, wann und wo … Herr Seitz bückt sich über den Korken der Sektflasche und fummelt am gezwirbelten Draht.
    Vielleicht ist es auch besser so … Ich setze mich mit den Gläsern zu ihm.
    Herr Seitz zupft geschäftig am Sektkorken, nicht, um ihn herauszuziehen, sondern um mich nicht anschauen zu müssen. Ich sehe lediglich seine ziegelroten Wangen, durchkreuzt von tiefen Furchen, die sich

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