Berlin liegt im Osten (German Edition)
eines Krieges von der Geburt bis zu seinem glorreichen Tod dar. So eine törichte, kindische Vorstellung von Leben und Tod im Krieg, da sind wir beide einig, und dennoch bleibt Herr Seitz bei der Meinung, dass der Klassizismus unübertroffen war und bleibt. Er schwärmt vom 19. Jahrhundert, von Schinkel, von der großen Liebe zwischen den Hohenzollern und den Romanows, die einander mit Pferden, Teepavillons, mannsgroßen Vasen, goldenen Eiern, Diamanten, Köchen, Kriegern oder ganzen Regimentern beschenkten. Auch Kopien der gusseisernen Geländer der Schlossbrücke wurden nach Petersburg verschenkt. Erst als Herr Seitz mich darauf hinwies, habe ich mich erinnert, dass ich die gleichen Tritonen und Seepferdchen so oft auf dem Newskij Prospekt gesehen hatte! Warum habe ich es nicht früher bemerkt? Mit seinen Augen sehe ich diese Straßen anders, erobere und bewohne sie neu, mache sie mir zueigen.
Gibt es auch ein Wort ‚Stadtnahme‘ als Pendant zur ‚Landnahme‘?, frage ich.
Nein, lächelt Herr Seitz. Gibt es nicht. Kennen Sie übrigens den Roman, der so heißt? So plaudernd, gehen wir am Zeughaus vorbei und bleiben vor der Neuen Wache stehen. Einst wärmten sich hier die Streifen der Schlossgarde, neuerdings sitzt in dem kahlen Steinsaal eine bronzene Mutter, ihr geschundener und zusammengebrochener Sohn knäult sich in ihrem Schoß. Die sitzende Frau mit Kopftuch lässt mich an meine Großmutter denken, oder an Herrn Seitz’ Mutter, wie sie hinter dem umgekippten Klavier den Sohn fest an sich presst, um ihn in ihrem Schoß vor Kugeln zu schützen.
Habe ich Ihnen über die ‚Madame Butterfly‘ im Admiralspalast erzählt?, fragt Herr Seitz, als wir in die Friedrichstraße abbiegen. Nein, sage ich, obwohl ich davon schon mehrmals gehört habe. Ich liebe seine Geschichten – mehrmals erzählt, gewinnen sie an Volumen, Farben, Facetten. Die Bilder bewegen sich, reihen sich zu einem Film, zu
meinem Film
, der vom Leben eines Berliners handelt und der nicht unbedingt mit dem wahren Leben von Herrn Seitz übereinstimmen muss.
Einmal kaufte ich uns teure Karten für eine Vorstellung im Admiralspalast, um ihn mit meinen eigenen Augen zu sehen. Es war eine mittelmäßige, dafür aber textgetreue Darstellung vom ‚Kleinen Prinzen‘, und es war eine Kindervorstellung. Sie wurde in einem Studio im Seitenflügel gezeigt, nicht in dem Saal, den Ulf Seitz als Heranwachsender so oft besucht hat.
Eine Freundin von Ulfs Mutter, die im Admiralspalast arbeitete, verschaffte ihm damals Zugang zu den Vorstellungen, in die er wollte. Mit der Musik übrigens lief es im sowjetischen Sektor am besten, die roten Generäle legten viel Wert auf das Musische. Schon in der ersten Nachkriegssaison gab man hier ‚Madame Butterfly‘, zur Premiere wurden die Militärobrigkeiten aller Verbündeten eingeladen. Unter den Linden war von Autos überflutet, an diesem Abend hupte, quietschte, brummte und schrie es in den drei Siegersprachen, die Oper allerdings wurde auf Deutsch gespielt. Ulfs Platz war hinter der Plüschgardine an einem der vorderen Eingänge, da, wo er anstatt der Aufseherin stand. Er kam, als die Vorstellung gerade begonnen hatte.
Im diffusen Bühnenlicht ähnelte das Parterre mit den stumpf glänzenden Reihen kahl geschorener Köpfe der Militärs dem monströsen Gelege eines Kriegsgottes. Die Eier saßen auf kräftigen, halslosen Rümpfen, die von französischen, amerikanischen, russischen Militärauszeichnungen schimmerten.
In der Nähe von Ulf saß ein amerikanischer General. Er rutschte auf seinem Sitz hin und her, schaute sich um, neigte sich fragend zu seinem Nachbarn und redete ihm lange ins Ohr. Silence, s’il vous plait!, zischte ein Eierkopf aus der hinteren Reihe.
Im Bühnenhintergrund leuchtete das Blau des Hafens von Nagasaki, zwischen drachenübersäten Schirmen und Baumbusstäben saßen in Schaukelstühlen Leutnant Pinkerton (Tenor) und der amerikanische Konsul (Bariton).
Kann mir jemand sagen, was sich hier abspielt und was dieser Deutsche in einer amerikanischen Uniform zu suchen hat?, sagte der General laut und zeigte mit dem Finger auf der Bühne.
Sein Nachbar neigte sich servil zum obrigkeitlichen Ohr, um die Geschichte des japanischen Mädchens und des amerikanischen Offiziers zu erläutern: Cho-Cho-San, Puccini, Italiener …
Lügen und Erfindungen, sagte der Friedensstörer noch lauter. Wenn unser Offizier ein japanisches Mädchen anbaggert, wird er vor ein Kriegsgericht gestellt! Verdammter
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