Berlin liegt im Osten (German Edition)
Jahre im Oranienburger KZ verbracht. Ihre Haare trug sie sehr kurz, sodass Ulf bei ihrem Anblick immer an die furchtbar abgemagerten Häftlinge mit den geschorenen Köpfen denken musste, deren Fotos ihnen in der Schule mehrmals gezeigt wurden. Zweimal abgeschnitten und immer noch zu kurz, sagte dazu Herr Stein.
Wie kann man einen Menschen für die Liebe bestrafen!, schüttelte die Mutter den Kopf.
Der Teufel macht dorthin, wo schon gedüngt ist, brummte Herr Stein vor sich hin. Er redete überhaupt fast nur in Sprichwörtern, deren dunklen Sinn er für sich behielt.
Die drei Erwachsenen redeten kaum miteinander. Diese von den Zeiten Verletzten mieden einander sogar, da sie ihre Schmerzen wie Stachel trugen, wie Stachel, die ihnen die Nähe zum Anderen verweigerten. Es brauchte lange, bis der Krieg zur Vergangenheit geronnen war. Für die Mutter von Ulf Seitz kam diese Zeit nie. Die Mutter schrumpfte zusammen, aß immer weniger, redete immer leiser.
Herr Braun, der sich in der ersten provisorischen Bezirksverwaltung engagierte, befreite die Kranke von den Aufräumungsarbeiten, und sie ging praktisch nicht mehr aus der Wohnung. Erst viele Jahre nach ihrem Tod stellte Ulf zahllose kleine Puzzleteile zusammen und verstand, dass sie mit einem Russenkind schwanger gewesen war, dass die Abtreibung zu spät erfolgte und sehr problematisch verlief. Davon hat sie sich nie erholt.
Die Räumungsbrigaden wurden auch hier vor der Volksbühne formiert. Es gab offensichtlich keine klaren Vorschriften, was die Beteiligung der Kinder an der Arbeit betraf. Manchmal wurden ältere Kinder miteinbezogen, manchmal auch nicht. An einem feuchten, regenschwangeren Maitag wurden Ulf und seine Freunde von einer sowjetischen Patrouille umzingelt.
Mit den Worten ‚Komm, komm!‘ wurden die Jungen zusammengetrieben. Auf dem Weg ins Zentrum wurden noch ein paar Kinder eingesammelt, und alle wurden sie am Lustgarten in mehrere Gruppen aufgeteilt.
Vor dem Dom standen Lastwagen, die auch Ulf irgendwohin zum Rand der Welt bringen sollten, zu einem Hochofen, in dem er bei lebendigem Leib verbrannt wird. So dachte Ulf, und seine Beine wurden augenblicklich bleischwer. Die anderen Jungen, genau wie er vor Angst ganz verstört, schwiegen und quälten sich offensichtlich mit ähnlichen Vorahnungen. Obwohl sein Deutsch ziemlich gut war, konnten sie deshalb lange nicht begreifen, was der Russe in der scharf gebügelten Uniform zu ihnen sagte. Verärgert und fluchend rief er nach dem Dolmetscher, einem Deutschen, der erklärte, dass die Jungen beim Abtransport der herumliegenden Leichen helfen sollten. Sie schauten sich um und sahen keine Leichen. Als der Russe Gummihandschuhe und feuchte Lappen für den Mund unter ihnen verteilt hatte, schob er mit dem gestiefelten Fuß etwas Erde vor sich weg, und ihnen streckte sich eine dunkle, halb verweste Hand entgegen. Alle Schützengräben um den Platz herum waren mit Leichen gefüllt und nur notdürftig zugeschüttet.
Viele Körper waren so aufgelöst, dass sie nur mit Kohlenzangen und mitsamt den Kleidungsstücken hochgehoben werden konnten. Die Jungen luden die Leichen auf Tragbahren und brachten sie zum Friedhof in der Sophienstraße. Auch irgendwelche Russen in zerlumpten Uniformen arbeiteten mit ihnen, sie wurden wie Sträflinge von ihren bewaffneten Landsleuten behandelt. Einmal geriet Ulf mit so einem Russen in ein Gespann. Da Ulf die Totenbahre vorne greifen musste, schmerzten ihn die nach hinten verrenkten Arme. Er fühlte sich wie ein Vogel, der an den Flügeln hochgehalten wird. Die irdischen Menschenhüllen stanken so sehr, dass selbst die Fliegen angewidert zu sein schienen. Sie kreisten nicht um die Toten, sondern um ihre Träger, unverschämt und dermaßen nah, dass ihre Flügel über Ulfs Wangenhaut strichen.
In seinem späteren Leben schien ihm oft, dass der grüne Lustgartenrasen in der Stadt sich an manchen Stellen wie der Bauch einer Schwangeren herauswölbte. Nun sprießt endlich die Wiese im Frühling: schmucke Bäume in Zierbottichen, tschilpende Spatzen, bunt gekleidete Menschen (sie laufen, sitzen, liegen, lächeln), und über ihre Köpfe ragen voluminöse bronzene Figuren (jede zwei Mann hoch) mit auffällig dicken Schenkeln: Kreationen eines berühmten kolumbianischen Künstlers. Die Plastiken gefallen Herrn Seitz nicht, von den weißen, wohlproportionierten Figuren auf
unserer
Schlossbrücke ist er dagegen sehr angetan.
Die allegorischen Skulpturen stellen die Lebensstationen
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