Berlin liegt im Osten (German Edition)
und der Mann streichelt ihre Hand und flüstert, dass alles gut ist, sehr gut, und dass keiner wagen wird, ihr etwas Schlimmes anzutun, weil er da ist… Sein Flüstern war sehr intensiv, wie das Zischen aus der Ritze eines hart aufgepumpten Fußballs. Irgendwann spät in der Nacht waren die beiden nicht mehr im Wohnzimmer. Lange stand Ulf vor der Schlafzimmertür, wagte aber nicht, die Klinke anzufassen.
Am nächsten Morgen hielt Ulf die Augen fest geschlossen, bis der Leutnant gegangen war.
Auf dem Tisch lag ein Stapel Brotscheiben, und daneben gab es eine kleine Pyramide Konservenfleisch auf einem Teller.
Die Mutter wusch in der tiefen Schüssel das Geschirr ab und stand mit dem Rücken zu ihm.
Morgen. Ich wollte dich nicht wecken. Geht es dir gut?
Es geht mir gut, sagte Ulf, dessen Krankheit in der Tat wie verflogen war. Und dir?
Iss Fleisch, ich mache Tee für dich, sagte die Mutter und schaute Ulf in die Augen.
Als sie sich wieder über die Schüssel beugte, sagte Ulf gegen ihren Rücken das, was sich ihm im Laufe der Nacht sogar im Schlaf im Kopf herumdrehte.
Also doch fick, fick, für Konserven. In Vaters Bett.
Die Mutter drehte sich zum Sohn, erstarrte für einen Augenblick und ging auf ihn zu. Der nasse Lappen fiel Ulf ins Gesicht, schlang sich schwungvoll um seinen Hals, fiel schmatzend auf seine Schulter, auf die Brust und flog wieder hoch zu seinen Ohren.
Wie – sprichst – du – mit – deiner Mutter? Sie atmete schwer und stieß die Worte einzeln heraus, wie Peitschenschläge. Verwöhntes Schwein, und schlimmer, viel schlimmer: Schwein, das seinen eigenen Vater verraten und in den Tod getrieben hat.
Du lügst, das habe ich nicht getan, nein! Ich hasse dich!, schrie Ulf und floh aus der Wohnung.
Er fand Zuflucht bei den Nachbarn eine Etage höher. Frau Braun drückte seinen Kopf an ihre weiche Brust und glättete seine vom schmutzigen, fetten Lappen durchnässten Haare.
Schon gut, wir leben alle, siehst du, wir sind alle am Leben, und was kann besser sein? Es wird sich alles beruhigen, glaub mir.
Es hat sich tatsächlich alles bald beruhigt. Nach einigen Tagen war der Leutnant weg. Der Zettel, den er zurückgelassen hatte –
Hier ist ein Leutnant der sowjetischen Armee, Kruglow A. N., einquartiert
– schützte sie vor weiteren Plünderungen. Ulf hat nie erfahren, was die Buchstaben A. und N. bedeutet haben. Wie nannte seine Mutter ihn, wenn sie ihn küsste? In der Nacht hörte er, wie der Leutnant Elsotschka zur Mutter sagte, und dieses schmatzende Suffix widerte ihn an.
Es war ein sonniger Tag, daher schien es Ulf, dass in der Wohnung totales Dunkel herrschte, als er und Frau Braun, die eine Woche lang an der Versöhnung gestrickt hatte, hereinkamen.
Hier sind wir, Elsa!, sagte die Nachbarin munter. – Dein verlorener Sohn, mit Hab und Gut!
Allmählich trat vor Ulfs Augen aus der Dunkelheit die Mutterfigur mit ausgestreckten Händen hervor. Auf dem Buffet glänzte ein Stapel Konservendosen.
Vierter Teil
1
In jenem ersten Nachkriegsfrühling hatte Ulfs Körper einen schmerzhaften Wachstumsschub erlitten: Die Hosenbeine reichten plötzlich kaum bis zu den Knöcheln, und die Mutter nähte für ihn Vaters Hosen um.
Nach dem Streit mied Ulf die Mutter, sprach sie ungern an und verbrachte viel Zeit draußen. Die neu formierte Freundes-Clique war für ihn sehr wichtig geworden. Er verliebte sich zum ersten Mal, und zwar in die fünfzehnjährige Inge, deren dünne Stäbchenwaden sich so schön mit den zwei hängenden dicken Haarzöpfen reimten: Die parallelen senkrechten Linien hatten etwas von einem Hampelmännchen, an dem man gerne zupft und zieht, was Ulf auch bei jeder Gelegenheit tat.
Er fühlte sich stark und kühn wie nie zuvor – als ob er seine Kraft der Mutter entzöge, der es immer schlechter ging. Sie sprach sehr leise, kämmte kaum noch ihre Haare und ließ die Gardinen auch tagsüber zugezogen. In den letzten fünf Jahren schien sie um satte fünfzig älter geworden zu sein.
Da in der ruinierten Stadt kaum intakte Wohnungen übrig geblieben waren, sollten Seitzens zwei von vier Zimmern abtreten. In eines zog eine junge Frau namens Martha, in das andere Herr Stein, der seinen linken Arm im Krieg verloren hatte. Seine linke Wange sah furchtbar entstellt aus. Die beiden mochten sich offensichtlich nicht. Martha war Halbjüdin, sie war aber verhaftet worden, weil sie sich mit einem polnischen Zwangsarbeiter „in ehrvergessener Weise“ eingelassen hatte. Sie hatte drei
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