Berlin liegt im Osten (German Edition)
italienischer Mist!
Wollen Sie bitte schweigen!, empörten sich die anderen Uniformen im Chor mit heiserem Flüstern, ihre Augen wurden rund und böse.
Der General wandte sich verdutzt von der Bühne ab und sah nicht mehr hin, sondern gaffte das Publikum auf den Balkonen und die Verzierungen an den Wänden an. Wenn der Generalskopf sich zu Ulf drehte, zog der sich weiter hinter die Plüschgardine zurück und konnte von der Vorstellung kaum etwas sehen.
Neben dem Plüschvorhang hat Ulf vielen Vorstellungen im Admiralspalast beigewohnt. Als Gymnasiast ging er sehr gerne mit seiner damaligen Freundin Lina aus, die in der schulfreien Zeit ihre Lippen rot schminkte und seine Berührungen so geschickt erwiderte, dass es Ulf dunkel vor den Augen wurde. Es hätte eine solide lehrreiche Liebesaffäre sein können, es war aber für die beiden kaum möglich, sich irgendwohin zurückzuziehen. Ulfs Mutter verließ die Wohnung selten, Lina wohnte mit ihrer aus Schlesien vertriebenen Familie in der Linienstraße in einer Kochstube, also in einem Zimmer, wo geschlafen, gekocht und gegessen wurde. Ganz hinten im Theaterdunkeln konnten sie sich küssen, und manchmal ließ Lina seine Hände an ihren Beinen entlang bis unter den Rock streicheln, auch dort, wo die Strümpfe enden.
Zum dreißigsten Jahrestag der Oktoberrevolution bekam Ulf zwei kostenlose Karten für ein Gastspiel des sowjetischen
Ensembles der Roten Armee
. An dem Abend zog er das erste Mal ein Sakko seines Vaters an, pfeifend kämmte er seine Haare glatt zurück und hörte nicht, wie die Mutter nach ihm rief. Als sie neben ihm im Spiegelbild erschien, hörte er auf zu pfeifen, einmal mehr erstaunt, wie wenig die Frau neben ihm von der selbstbewussten, heiteren Mutter hatte, in deren Händen er so oft Trost und Zuflucht gefunden hatte. Wie damals nach dem ersten Kinobesuch … Die Vision löste sich aber rasch auf, er pustete auf den Kamm und fuhr sich mehrmals mit der Handfläche über sein glattes Haar:
Was ist?
Vielleicht bleibst du zu Hause heute?
Geht es dir nicht gut? Ulf tätschelte sie beruhigend am Arm – in den letzten zwei Jahren war Mutters Kranksein für ihn zur Routine geworden.
Ich glaube, du bist einfach müde …
Ja, einfach müde. – Ihre Stimme war dünn und schlapp, die Hände, die sie auf seinen wattierten Schultern ablegte, waren leicht, fast gewichtlos. – Schau mal, du bist schon fast ins Sakko deines Vaters hineingewachsen.
Diesmal saßen Lina und Ulf oben, auf dem Balkon, und es fühlte sich anders an als hinter dem Vorhang, und nicht unbedingt besser. In der Menschenmenge eng aneinander gerückt, konnten sie einander kaum anschauen, geschweige denn berühren. Nicht das aber störte Ulf, sondern ein wehmütiges Unbehagen, das ihn an diesem Abend befiel. Zuerst spielte das Blasorchester einen langsamen, düsteren Marsch, dann eine brave Melodie, dann wurde das Lied ‚Mutter‘ majestätisch angekündigt. Maaaaaat!!!, quoll es aus dem weit geöffneten Mund des uniformierten, stämmigen Solisten, und Ulf erinnerte sich, wie er neulich neben der Mutter im halbdunklen Korridor gestanden hatte, er sah ihre Gesichter im Spiegel, und dieses Bild beunruhigte ihn nun sehr.
Gleich nach der Vorstellung entschuldigte er sich bei Lina und rannte nach Hause. Es war Herbstabend. Brache Ruinen, schwarze Spree, kariöse Fassaden, die öde Lothringer Straße, lange und holprig, spärlich beleuchtet: Im blassen Lichtstrahl lag die Mutter auf dem schwarzen Bürgersteig vor ihrem Haus. Ihr weißes Hemd schimmerte im Dunkeln, um sie herum standen fremde Menschen, die er flüstern hörte: Sie war hinausgegangen und ist hier zusammengebrochen.
Ulf kniete sich nieder und schob seine Hände unter Mutters Kopf. Sie machte die Augen auf und sagte ganz ruhig, dass sie ihn unbedingt noch hatte sehen wollen, um ihm zu sagen, dass sie ihn liebt und dass sie sich Sorgen macht, weil er allein auf der Welt bleibt.
Das Schlimmste ist aber vorbei, sei froh und zuversichtlich, jetzt wird alles besser. – Das waren ihre letzten Worte. Zwei Stunden später starb sie im Krankenhaus.
Und Lina?, frage ich.
Sie hat übrigens hier in der Nähe gewohnt, zeigt Herr Seitz auf einen heruntergekommenen Hof am Anfang der Linienstraße, in die wir gerade von der lauten Friedrichstraße eingebogen sind.
Da, sehen Sie diesen Baum? Da habe ich immer auf sie gewartet. Sie wollte nicht, dass ich hochgehe.
Einmal stieg er dennoch hoch in die dritte Etage. Die Eingangstür war
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