Berlin liegt im Osten (German Edition)
sie einer verzweifelten Vogelmutter, die einen Friedensstörer mit ulkigen Gesten vom Nest weglocken will.
Ulf schlich aus der Wohnung und versteckte sich in der Ritze zwischen Scheunenwand und Hofmauer. Die Russen holten aus dem Keller zwei Fahrräder und fuhren lachend zur Probe im Kreis. Die Sättel waren ihnen zu tief, so dass sie ihre Beine knicken und nach außen kippen mussten. Sie saßen offensichtlich zum ersten Mal in ihrem Leben auf einem Fahrrad. Verkrampft klammerten sie sich an den Lenkern fest, die Fahrräder wackelten, und als einer der beiden Zirkusbären stürzte, lachten die umstehenden Rotarmisten bis zum Umfallen. Die Soldaten bewarfen sich gegenseitig mit dem in der Schokoladenfabrik erbeuteten Konfekt, und der Boden des Hofes war bald mit bunten Kügelchen übersät, was Ulf noch stärker an ein Kinderfest erinnerte.
Ein Soldat, der Ulf angaffte, nickte ihm mit breitem Lächeln zu und machte einen Schritt zur Scheune. Ulfs Herz schlug bis zum Hals, der Rotarmist reichte ihm ein Päckchen Liebesperlen und zeigte mit dem Daumen zum Himmel: Gut!
In dem Moment lehnte sich der Mann mit den Sommersprossen aus dem Fenster von Ulfs Wohnung und schrie seine Kameraden im Hof an. Alle stürmten zur Feuerleiter, die Fahrräder blieben auf dem Boden liegen – erbeutete und noch zuckende Tiere.
Bis zum späten Abend wagte Ulf sich nicht nach Hause und streunte in der Nachbarschaft herum. Vor der Volksbühne gab es ein großes, spontanes Siegeslagerfeuer mit Tanz und Musik. Das rötliche Feuer leuchtete auf den Gesichtern der herumstehenden Menschen, das exzessive Tanzen und der Rauch über der altarähnlichen Feldküche, wo die Opferspeisen blubberten, verstärkten Ulfs Gefühl, er habe sich unter unberechenbare Urmenschen verirrt.
Auch die Deutschen wurden bei den Fleischtöpfen geduldet, Brot wurde verteilt. Ulf stellte sich bei der Feldküche an und bekam eine Schüssel Nudeln mit Rindfleisch. Als er etwas auf die Seite treten wollte, hielt ihn ein Russe am Hosenbein fest: Stoj! Er zeigte auf Schüssel und Löffel: Zurück! Ulf aß schnell, gab das Geschirr wieder ab und ging heim.
In der Torstraße herrschte Ruhe – im Dunkeln blieben die Sieger lieber unter sich. Das leckere Essen, das er aus den Händen der Peiniger seiner Mutter entgegengenommen hatte, lag Ulf quer im Magen. Als er die Wohnung betrat, umarmte ihn die Mutter und weinte.
Schon gut, schon gut, sagte er, streichelte sie an der Schulter, so wie es ein Mann einer Frau oder einem Kind gegenüber tun würde, und dann fiel er ins Bett, weil er Magenkrämpfe und Schüttelfrost hatte. Bis zum Morgenrot saß die Mutter neben Ulf, und obwohl sie die Nacht ohne Licht verbrachten, merkte Ulf, dass Mutters linke Backe leicht bläulich angelaufen war und dass ihre geschundenen Knie mit einer blutigen Kruste bedeckt waren.
Am nächsten Morgen klopfte jemand ganz leise an der Tür, so leise, dass sie fest davon überzeugt waren, es seien die Nachbarn. Ein russischer Mann griff salutierend an den Mützenschirm und ging hinein.
Leutnant Kruglow! Gnädige Frau! Sie leben hier?
Die Mutter nickte.
Sohn? Er zeigte auf Ulf, der mit flammenden Backen im Bett fieberte.
Leutnant Kruglow erklärte in seinem löchrigen Deutsch, dass er nach einem Quartier suche. Ohne Treppe sei es nicht so praktisch, aber es gefiele ihm hier sehr, sagte er und küsste die Hand der gnädigen Frau. Nachdem er seine Absicht geäußert hatte, Frau und Kind vor den Schikanen bäuerlicher Grobiane zu schützen, nickte die Mutter mit einem mehrfachen Ja. Er stand auf, drückte Mutters Hand wieder an seine Lippen, schlug die Absätze gegeneinander und ging, um seine Sachen zu holen. Abends saßen sie zu dritt am Tisch. Das Kerzenlicht flackerte auf den Zungen aufgeschlitzter Konservendosen.
Iss Fleisch, Ulf, das brauchst du jetzt, und wir haben so lange keins gegessen. Iss, sagte die Mutter leise.
Iss, sprach Kruglow der Mutter nach und schob Ulf eine Dose etwas näher hin. Mir ist immer noch übel, sagte Ulf und ging in sein Zimmer.
Die Anwesenheit des Mannes beunruhigte ihn, und er konnte nicht schlafen. Immer wieder ging er Wasser trinken oder aufs Klo und sah die beiden im Wohnzimmer sitzen. Diese Momentaufnahmen setzten sich in Ulfs Kopf zu einer Liebesgeschichte zusammen, wie sie auf kitschigen, romantischen Ansichtskarten erzählt werden: Hier sitzen Mann und Frau bei Kerzenlicht am Tisch, dann sitzen sie auf dem Sofa, kaum erkennbar im Dunkeln, dann liegt die Frau,
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