Berlin liegt im Osten (German Edition)
offen, der hallende Tunnel des Korridors (Türen links und rechts), endete in einer engen Klo-Kammer mit sehr hohem Sitz. Linas Familie lebte in einer Stube, wo sie auch kochte. Ulf hörte Linas Stimme und klopfte, dann öffnete er die Tür und sah ihre beiden kleinen Schwestern auf dem Bett sitzen, einen umgekippten Eimer und Lina, wie sie kniend flüssigen Kot vom Boden aufwischte. Ihr beinloser Vater saß im Rollstuhl daneben und schlug mit einer Krücke auf ihren gekrümmten Rücken.
Ulf floh und versteckte sich im Gebüsch. Bald zeigte sich Lina, schaute sich um – keiner war da. Sie suchte in einem schmutzigen Fenster nach ihrem Spiegelbild, um ihre Lippen für Ulf rot zu schminken. Er aber blieb stehen und rief nicht nach ihr, da er sich nicht mehr vorstellen konnte,
diese
Hände anzufassen, geschweige denn zu küssen.
Und abermals krähte der Hahn, brummte Herr Seitz vor sich hin.
Was haben Sie gesagt?
Ich sage, Lina ging nach Westen, noch vor dem Mauerbau. Und ihre Schwester und Vater blieben.
Inzwischen sind wir an einem kleinen Grünplatz angelangt, da wo Ackerstraße und Linienstraße sich kreuzen. Hinter der Hecke auf der grünen Wiese steht ein Wohnzimmertisch und davor ein Stuhl; ein anderer Stuhl liegt umgekippt auf dem Parkett, das Teil der Skulptur ist. All die Gegenstände, Parkett inklusive, sind naturgetreu in Bronze ausgeführt. Ich behaupte, es ist ein Denkmal für die Berliner, die aus ihren Wohnzimmern weg in den Tod gezerrt wurden. Herr Seitz meint, dass die Plastik ohne die Inschrift absolut nichtssagend ist – solche Kunst kratze nicht an seiner Seele, sie sei weder schön noch informativ.
Das sagen Sie nur aus Trotz!, ärgere ich mich. – Als ihr Vater damals aufgestanden ist, kippte der Stuhl hinter ihm genau so wie hier! Das haben Sie mir mehrmals erzählt! Weil sein abgelegter Mantel zu schwer war!
Ich habe Ihnen schon mal erzählt, dass mein Vater verhaftet wurde, aber nicht solche Details mit dem Stuhl oder Mantel … Das haben Sie sich sicher dazu gedacht, nur weil es Ihnen gerade ins Konzept passt!, ärgert er sich plötzlich und ist vielleicht auch im Recht. Und dennoch sehe ich deutlich, wie der aus dem Gleichgewicht geratene Stuhl nach hinten kippt. Ich kann den Film auch zurückspulen und sehen, wie der achtjährige Junge die heutige Tor- und damalige Lothringer Straße entlang läuft und an der Ecke zur Prenzlauer Allee stehenbleibt. Wie er die Zentrale der Reichsjugendführung betritt und sich an den Wächter mit der Bitte wendet, ihn, Ulf Seitz, beim Gauleiter zu melden.
Bald stand Ulf – Hände an den Nähten – mitten in einem hellen Zimmer und erzählte, dass sein Vater im Begriff sei, ins Ausland zu fliehen. Genauer gesagt, ins feindliche Ausland. Vielleicht auch in die Sowjetunion, legte Ulf nach und fügte hinzu, dass er damit rechne, dass der Vater, der eigentlich ein anständiger Bürger sei, gleich nach der Aufklärung des Falles nach Hause komme. Zu dieser Entscheidung bewegte Ulf die Erfahrung ihres Nachbarn, des Onkels Tobias, der eines Tages festgenommen worden und dann nach vier Tagen nach Hause gekommen war, genauso fröhlich und wohlbeleibt wie vorher. Ulfs Vater selbst war auch schon einmal verhaftet worden, noch vor dem Krieg, und er war auch nach einigen Wochen wieder heimgekommen … Zwar hatte er danach etwas anders gelebt, war oft abwesend, und die Mutter hatte sich nach außen so benommen, als ob sie sich getrennt hätten. Aber immerhin, er war wieder hier gewesen und nicht in irgendeinem Ausland.
Der Mann saß am Schreibtisch mit dem Rücken zum Fenster, hinter dem Ulf den ummauerten Friedhof in der Prenzlauer Allee sehen konnte. Das Gesicht des Mannes war im Gegenlicht aber kaum zu erkennen. Ulf sah lediglich einen schinkenrosigen Baumstumpfkopf, der aus einem eng anliegenden schwarzen Stehkragen wuchs. Der Mann schien von Ulfs Bericht gar nicht beeindruckt zu sein. Er fragte den jungen Pimpf nach Namen und Adresse und schickte ihn nach Hause. Ulf spielte auf dem Hof und machte sich Sorgen, dass sein Bericht ohne Wirkung bleiben könnte. Es war ein sehr stiller Tag, bis der Luftalarm heulte und alles in Bewegung kam. Ulf lief zum Hauseingang: Die restlichen Bewohner stiegen hastig die Treppe hinunter, während sich drei schwarz gekleidete Männer gegen den Menschenstrom in die entgegengesetzte Richtung arbeiteten. Ulf ging ihnen nach, die Tür aber fiel vor seiner Nase ins Schloss. Der Junge blieb im Treppenhaus stehen und kaute an
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