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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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seinem Daumennagel – zum ersten Mal fürchtete er sich davor, an diese Tür zu klopfen, hinter der er immer Zuflucht gesucht hatte. Vor den Menschen in Schwarz hatte er nie Angst gehabt, warum machte er sich plötzlich solche Sorgen um das Wohl des Vaters?
    Als die Tür sich öffnete und der Vater in Begleitung dreier stummer Männer im Treppenhaus erschien, war Ulf, als hätte er etwas Schlimmes angerichtet, das Gesicht des Vaters aber wirkte weder verzweifelt noch böse.
    Was machst du denn da? Abmarsch in den Schutzkeller! – Er beugte sich zu seinem Sohn, küsste ihn aufs Ohr und flüsterte dabei etwas, das Ulf nicht verstand – er spürte nur die Wärme des Atems. Als Ulf in die Wohnung stürzte, saß die Mutter abwesend am runden Tisch und pickte mit dem Zeigefinger in die Krümel auf dem leeren Teller. Über der Lehne des anderen Stuhls wallte, tot und leer, der vom Vater abgelegte karierte Morgenmantel. Als Ulf ihn anfasste, kippte der Stuhl unter dem Gewicht des Mantels um.
    Als wir zu ihm nach Hause kommen, schaue ich heimlich in den alten Schrank hinein und vergewissere mich, dass der abgewetzte karierte Hausmantel von Konrad Seitz nicht mein Hirngespinst ist, sondern tatsächlich existiert. Und im Keller sah ich einst den verkalkten Eimer, in dem Ulfs Mutter früher Eier für schlechte Zeiten eingemauert hatte. Wie fühlt es sich an, wenn die Welt, in die du geboren wurdest, wie eine Nussschale mit dir zusammen wächst, kränkelt, reift, altert? Ich versuche es mir vorzustellen, und es klappt nicht: die jenseitigen Orte meiner Kindheit sind inzwischen zu einem jämmerlichen Dutzend anthrazitglänzender, verschwommener Aufnahmen zusammengeschrumpft. Manchmal zweifle ich selbst daran, dass es diese Orte immer noch auf der Erde gibt.
    Als ich ins Wohnzimmer zurückkehre, sitzt Herr Seitz auf dem tiefen Sofa, Filzpantoffeln an den Füßen.
    Es wird die Parade in Moskau gezeigt. Gleich auf
Phoenix
. Wir könnten ein bisschen fernsehen?
    Ich weiß, wie schwer ihm dieser Satz fällt, denn es geht hier nicht ums Fernsehen, sondern um die körperliche Nähe, die uns diese Aktion ermöglicht. Seit dem waghalsigen Kuss in der Silvesternacht (der streng genommen nicht Herrn Seitz, sondern dem schönen Anonymen galt) fühlt sich unsere Freundschaft etwas anders an. Wir reden nie über den
Vorfall
, und äußerlich hat sich unser Verhalten nicht geändert. Doch immer öfter (vor allem, wenn wir uns verabschieden), verraten die Blicke von Herrn Seitz und der Klang seiner Stimme seine unruhige Hoffnung auf mehr. Diese Anhänglichkeit neuer Art, seine Erwartungen lasten auf mir, mal fühle ich mich vor ihm in der Schuld und mal in der Pflicht, oder beides, wie auch jetzt, wo wir dank der ausgehöhlten, durchgesessenen Polster eng aneinandergepresst vor dem Fernseher sitzen.
    Der Rote Platz ist von einem Menschenozean überflutet. Soldaten schreiten in strengen Reihen, Panzer kriechen und Lastwägen rollen mit erigierten Raketen. Es dröhnen Märsche, dazwischen keifen kleinwüchsige Generäle mit hohen schmucken Mützen. Die Kamera zoomt an sichtbar erregte russische Männer auf der Regierungstribüne heran, die deutsche Kanzlerin liefert ein schiefes, erzwungenes Lächeln ab. Vorsichtig legt Herr Seitz seine Hand auf meine und fragt, ob er mich küssen darf. Ich drehe mich zu ihm, er wirft seine Lippen trichterförmig aus, so wie es Kinder tun, drückt die Augen zu und wird zu Stein. Dieser ulkige, hilflose Mund, die Marschmusik und die vom Anblick militärischer Fetische in Ekstase erstarrten Gesichter am Bildschirm – das Ganze ist zu grotesk, um ernst genommen zu werden. Ich unterdrücke ein unangebrachtes Lächeln, halte mein Gesicht gegen die trockenen Lippen und umarme den alten Mann. Seine Schultern erscheinen mir trocken und brüchig, und dennoch drücke ich sie immer fester. Dabei erinnere ich mich, wie ich einmal in meiner Kindheit ein niedliches Küken vor Entzückung erdrückte: während ich seinen kleinen Schnabel küsste, spürte ich, wie das weiche, knorpelige Gerüst in meiner Faust zerbrach.

2
    Ich weiß viel über die Kindheit und Jugend von Herrn Seitz, über sein Leben als Erwachsener weiß ich nur so viel, dass er 1961 eine Dora geheiratet hat und dass sie fünf Jahre später ihren Sohn Marius zur Welt brachte. Dass er seine Frau vor der Wende verloren hat und kurz danach seinen Sohn. Den Rest kann ich nur rekonstruieren: Im Herbst 1959, als das Pergamonmuseum wiedereröffnet wurde, standen

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