Berlin liegt im Osten (German Edition)
sehr viel soziale Kompetenz und Menschlichkeit braucht.
Und er ist kein Versager, kein Künstler, hat einen guten Beruf und ist nett – ist das nicht zu viel auf einmal?
Warum, er ist doch ganz normal!
Das meine ich eben, zu normal, nicht so wie alle diese Panoptikumfiguren in deiner Umgebung.
Meinst du, er wird mich nicht anrufen?
Doch, aber du sollst nicht gleich so viele Hoffnungen in ihn investieren.
Er ist ein Arzt, und wir sind zusammen glücklich
, äfft Marina mich sarkastisch nach.
Das habe ich einfach so gesagt, erfunden, um deinen Vater zu ärgern. – Meine Ohren brennen vor Peinlichkeit. Jedenfalls musst du das Ganze etwas gelassener sehen. Vielleicht ruft er heute noch an, vielleicht auch gar nicht.
Roman ruft an, aber erst eine Woche später.
Hörst du es nicht? Telefon! Geh mal ran, ich wasche hier ab!, ruft Marina aus der Küche, meine kurzen Repliken aber veranlassen sie, erst einmal ihre Bewegungen zu verlangsamen, um nicht mit dem Geschirr zu klappern, und mir schließlich zu folgen. Als ich den Hörer auflege, steht sie mit dem nassen Schwamm in der Hand plötzlich ganz nah bei mir.
Roman?
Er war es!, flüstere ich laut.
Na siehst du, hab ich doch gesagt! – Von ihrem Sarkasmus ist nichts mehr übrig, jetzt röten sich ihre Wangen vor Enthusiasmus.
Und ihr geht zusammen essen, ja?
Nein. Tee trinken. Am Freitag, in drei Tagen also, nein, in dreieinhalb.
Na, da haben wir etwas Zeit, dein Erscheinungsbild in möglichst beste Form zu bringen!
Wir treffen uns in der tadschikischen Teestube in einem alten Palais hinter der Neuen Wache. Die Stube, ein mittelgroßes Zimmer, das mit handgeschnitzten Sandelholzsäulen umstellt und mit Bildern aus der orientalischen Märchenwelt bemalt ist, hat vor vierzig Jahren den sowjetischen Pavillon der Leipziger Messe geschmückt und wurde danach als Geschenk hierherverfrachtet. In jedem Reiseführer erwähnt, ist der Ort kein Geheimtipp mehr und immer voll, jetzt aber, wie durch ein Wunder, ist die Stube fast leer. Die Fenster sind weit geöffnet, dahinter sieht man ein Stück Zeughaus und ein Stück Himmel. Die Sonne ist gerade untergegangen, ihr rötlicher Widerschein aber trotzt dem anrückenden Dunkel, der Übergang zwischen Tag und Nacht schimmert grün und lila wie Polarlichter.
Die Teezeremonie kann man im Sitzen (ein Tisch direkt am Fenster ist frei) genießen oder auf einem niedrigen Podest liegend. Wir ziehen die zweite Variante vor und machen es uns auf den bunten Kissen vor dem kleinwüchsigen Tisch bequem. Roman kennt diesen Ort gut. Wenn er nicht arbeitet, ist er viel unterwegs, weil er neugierig auf die Stadt ist – und auf die Menschen und auf mich.
Sag mal, woher kommst du genau?
Meine Geschichte reimt sich gut auf die russische Teezeremonie, mit der wir den Abend beginnen – schwarzer Tee mit Wodka und in Rum eingelegten Rosinen.
Wladiwostok! Ich bin einige Male da vorbeigeflogen auf dem Weg nach Japan. Ansonsten war ich nie im europäischen Osten! Nur in Warschau oder in Budapest, aber auch nur kurz – ich habe nämlich früher einmal als Flugbegleiter gearbeitet.
Flugbegleiter?
Ja, in meiner Jugend, sechs Jahre unterwegs. Länder, Menschen, Sprachen – ich war damals verrückt nach der weiten Welt!
Gleich nach dem Medizinstudium beschloss Roman, den Anfang seines Erwachsenendaseins zu verzögern. Dafür machte er eine Ausbildung bei der Lufthansa und fing an, die Welt zu erkunden. In den Flugpausen allerdings arbeitete er in einer Praxis, um den Anschluss zur Medizin nicht zu verlieren. Danach hatte er eine Stelle an einem Krankenhaus in München, parallel bastelte er an seiner Doktorarbeit. In dieser Zeit war er süchtig nach Kanufahren und Tennis, Bayern aber wurde er überdrüssig. Jetzt ist er in Berlin angekommen und fragt sich, ob er für ein sesshaftes Leben reif ist, mit allem Drum und Dran, für ein Leben von Urlaub zu Urlaub, wie seine Eltern.
Und wer sind deine Eltern? – Meine Frage ist nicht rhetorisch, ich interessiere mich tatsächlich brennend dafür, wie solche Menschen wie er zustande kommen, Menschen, die ihr Leben
machen
, und die nicht vom Leben
gemacht werden
wie ich.
Die mit Teppichen ausgelegte Halbdämmerung, die horizontale Körperlage (wenn auch ohne einen Therapeuten zu Häupten) und ein Schuss Wodka im Tee lassen seine erzählte Zeit immer tiefer in die Vergangenheit abrutschen.
Roman hat noch zwei Geschwister, und auf Urlaub sind sie alle mit dem Wohnwagen nach Italien gefahren. Seine
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