Berlin liegt im Osten (German Edition)
Kindheit hat er in Köln verbracht, in einem dieser grünen Vororte, wo die Einfamilienhäuser oft diese launischen Wölbungen und Türmchen haben und wo selbst die im Schatten hoher Tannen stehenden schlichten grauen Würfelhäuser (wie bei Romans Familie) etwas Märchenhaftes an sich haben. Die Bewohner solcher Gegenden meistern ihren Alltag so geschickt und sauber, dass sie ihn gern zur Schau stellen, und ein rarer Passant kann hinter den bloßen Fenstern die beleuchteten Fragmente einer totalen abendlichen Idylle sehen. Nur morgens wickeln sich die Ereignisse etwas hastig ab, wenn die Eltern sich gestresst um die startbereiten Autos mühen, während ihre verschlafenen Kinder in süßer kinematografischer Einstellung (Daumen im Mund, Teddybär in der Hand) teilnahmslos danebenstehen – mit solchen Bildern füllt sich mein Kopf, während Roman redet.
Wir waren eine gute Familie, mir fehlte nichts.
Und deinen Eltern?
Ihnen vielleicht schon, aber das stellte sich erst im Nachhinein heraus.
Romans Vater war Zahntechniker, ein Superstar im entsprechenden Milieu. Seine Mutter hat in der Sonderschule gearbeitet. Eigentlich mochten sie ihre Arbeit, von den wilden Sechzigern aber schmerzhaft tangiert, konnten sie sich schwer mit den Banalitäten des bürgerlichen Alltags abfinden. Sie liebten Buddy Holly und Joseph Beuys, sie vergötterten alles Kreative und trieben selbst Kunst – zum Ausgleich, sagten sie, im Stillen aber träumten sie doch davon, mit ihren künstlerischen Offenbarungen der Welt etwas Ruhm abzutrotzen. Wenn die Kinder im Bett waren, schnitzte Romans Vater, und die Mutter schrieb einen Roman, dessen Protagonistin, eine mehrfache Mutter, reich und schön, sich in einen Zirkusakrobaten verliebt, von zu Hause flieht, um dann mit ihrem Geliebten und seinem Zirkus durch die Welt zu ziehen.
Und was hat dein Vater geschnitzt?
Sein Hobby waren japanische Netsuke, er sammelte sie und machte auch selber welche. Das sind diese kleinen Figuren aus Elfenbein, Wurzelholz oder Hirschhorn, mein Vater jedoch zog Nephrit oder andere Steine vor. Er war wie besessen von ihnen, hatte auch ein Händchen dafür.
Romans Vater träumte davon, irgendwann eine Pilgerreise nach Japan zu machen, zu den wenigen waschechten Netsuke-Meistern, verschob es aber immer wieder. Vielleicht traute er sich einfach nicht. Kurz vor seiner Rente aber hatte er kleinen Ruhm erlangt – seine Netsuke-Arbeiten wurden in einer Fachzeitschrift dargestellt und sehr gut besprochen. Dann fing er an, seine Japanreise zu arrangieren, und dann starb er.
Und das war in der Zeit, als du zum Flugbegleiter wurdest?
Ja, stimmt. – Roman schaut mich interessiert an. – Vielleicht essen wir hier auch was?
Kurz aus der Vergangenheit meines Gegenübers aufgetaucht, merke ich, dass inzwischen alle Tische besetzt sind. Vier Sterne, frisch geschlüpft, blass und unsicher, schmücken das kobaltblaue Stück Himmel im Fenster.
Ich bestelle mir Borschtsch, der sich dann später als sehr mittelmäßig erweist, Roman gibt sich mit einem von Pfannkuchen umwickelten Kaviar zufrieden.
Ein Netsuke meines Vaters stellte eine Krevette dar, und diese trug wie in einer Schaufel viele Eier, so einen Eierballen zwischen den vielen Beinchen. Der Stein war durchsichtig und die Eier sahen sehr echt aus. Ich spüre immer noch diesen Drang, sie zwischen meinen Fingern platzen zu lassen. – Roman versucht, die letzten Kügelchen Kaviar unverletzt mit der Gabel zu erwischen.
Ganz am Anfang hat Romans Vater nur Meisterstücke kopiert, Meerestiere, Insekten, Blüten. Mit der Zeit aber arbeitete er ohne Vorbilder und machte rundliche, freundliche Buddhas, dann grotesk verkrüppelte Menschen und viele Liebesszenen, die sehr pornographisch wirkten. Und irgendwann, als er schon krank war, schnitzte er ein Baby, das zusammengekrümmt im Mutterbauch liegt, oder besser gesagt: in einer leicht geöffneten Knospe. Die Plastik aus einem schwarzen Stein schien Roman noch unheimlicher, als er bemerkte, dass das Kind im Gesicht seinem betagten Vater ähnelte.
Diese morbide Ähnlichkeit habe ich allerdings erst nach seinem Tod bemerkt. – Roman schiebt den leeren Teller von sich weg und wartet schweigend, bis der Kellner, von unseren satten Blicken ermutigt, das schmutzige Geschirr abgeräumt hat.
Und auch sonst haben alle diese Plastiken, chronologisch gereiht, etwas Unheimliches an sich, sagt Roman, wie ein rückwärts laufender Film oder wie ein Kreislauf des Lebens, in dem dieser
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