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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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da, während der Mann daneben sich nicht bewegt. Die Mädchen kreischen, die Menge quillt auf die Fahrbahn und bildet einen Kreis um den Verunglückten, der keine sichtbaren Verletzungen hat, aber einen unheimlichen und leblosen Eindruck macht.
    Hey, was steht ihr da rum! – Einer der Passanten, der sich über den Liegenden beugt, dreht sich um, und ich erkenne in ihm den Mann aus dem Schneesturm. Er hat sogar das gleiche Fischgrätsakko an, das jetzt, im warmen Mai, auf einem dünnen T-Shirt etwas zu locker sitzt. – Kann hier jemand endlich die Feuerwehr anrufen?
    Mein Akku ist leer, rechtfertige ich mich, ohne gehört oder gesehen zu werden – der Mann ist zu beschäftigt, um mich wahrzunehmen und zu erkennen. Er greift dem reglosen Mann ans Handgelenk, berührt seine Wangen, schaut ihm unter die Augenlider.
    Ich bin Arzt. – Mit einer autoritären Geste drängt er die anderen Helfer zur Seite, dreht den Körper sachte in die Seitenlage und betastet den Kopf. Diesmal beschließe ich, nicht vor dem Unbekannten zu fliehen. Ich bleibe stehen und halte gemeinsam mit allen anderen Ausschau nach dem Krankenwagen. Die Besucher des benachbarten Restaurants sitzen mit weichen roten Polyesterdecken da, als ob sie von einem Erdbeben aus ihren Betten gejagt worden wären. Es kommt ein Polizeiwagen, dann heulen mehrere Martinshörner, und das blaue hektische Licht verstärkt die Ähnlichkeit mit einem Katastrophenfilm. Mein Unbekannter verkehrt souverän und selbstsicher mit all den Uniformierten um ihn herum, als ob er sie alle verwalten und koordinieren würde. Nur sein bloßer Hals ragt kindlich aus dem lockeren Sakko heraus.
    Ich komme erst zu ihm, als die Krankenwagen weg sind, und berühre ihn am Oberarm.
    Hallo, kennen Sie mich noch?
    Muss kurz überlegen. Kann sein, runzelt er die Stirn.
    Wir haben uns ein paar hundert Meter von hier im Winter einmal getroffen. Sie hatten dieses Jackett an und einen grauen Schal.
    Ah! Die Mütze! Der Schnee und der Trödel, ich weiß. Wie geht es Ihnen?
    Gut! – Ich bin überhaupt nicht verlegen, meine Stimme ist freundlich, bloß immer noch etwas besorgt. – Wie geht es dem Fahrradfahrer?
    Er ist sehr betrunken, vielleicht daher ziemlich weich gelandet, keine Brüche. Aber starke Prellungen des Kopfes. Man wird erst im Krankenhaus sagen können, was ist. Hoffentlich kommt er mit einer Gehirnerschütterung davon.
    Wo müssen Sie hin? Kann ich Sie diesmal ein Stück begleiten?, sage ich und staune wieder über meine kühne Gelassenheit.
    Wir könnten irgendwo was trinken, nach all diesen Katastrophen.
    Hier um die Ecke gibt es ein Deli, vielleicht holen wir uns da was und gehen ein paar Schritte spazieren? Es ist so schön draußen.
    Ja, die würzige Luft, gesättigt mit all diesen Pollen und Blütendüften. Der Mann atmet tief ein. – Ich heiße Roman, und Sie?

3
    Als ich am nächsten Morgen die Augen aufmache, tanzt Goldstaub in der Luft. Die Sonnenstrahlen dringen fächerartig ins Zimmer, die lichtgetränkten Holzdielen unter meinen bloßen Fußsohlen sind warm. Ich sollte meine Zehennägel lackieren. Mit Rot. Dunkelrot. Wie Marina.
    Marina!, rufe ich.
    Papa ist da!, antwortet sie schnell und öffnet die Tür. – Ich wollte dich nicht wecken.
    Schura sitzt am Tisch und schlürft Tee. Sein Kopf ist auf die linke Hand gestützt, mit der rechten zupft er an seinen Augenbrauen – ein Zeichen höchster Konzentration oder Besorgnis.
    Ihm geht es nicht gut. Er braucht Geld. Für einen Monat. Maximal einen Monat. Er braucht zweitausend. Mindestens.
    Warum nicht drei? Und einen Leinensack, für den Gewinn, wie damals, weißt du noch?
    Mit dem Schmuck ist alles schiefgelaufen. Ziemlich schief. Er braucht es. Ich bin einverstanden, wir können das Geld nehmen, das wir für meine Amerikareise gespart haben, seufzt Marina.
    Bist du wahnsinnig?, fauche ich. – Marina schlägt das geöffnete Fenster zu (wegen der Nachbarn), und der Streit gilt damit als eröffnet. Den ganzen Morgen zanken wir in der engen Küche. Ich barfuß und mit vom Schlaf zerzaustem Haar, Schura, der sein
iPhone
wie eine Granate in der Faust hält, und Marina, die für ihren Vater, einen bodenlosen Versager, so viel Geduld, Glauben und Nachsicht parat hat.
    Was hat er für sie in seinem Leben getan? Er war nie beim Arzt mit ihr, hat nie einen Elternabend in der Schule besucht, er hatte nie Zeit für sie, für uns. Abgesehen von dem Jahr, das wir im tristen Spandauer Asylheim verbrachten. Da waren wir drei immer

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