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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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wir Schnitzel aus der Retorte, der Mensch ist schlau, und alles wird gut.
    Aber die Urwälder werden tagtäglich immer weiter kahlgeschlagen! – Ich wundere mich über die Hartnäckigkeit, mit der ich mich, ganz wie meine Mutter, an Horrorszenarien klammere, wenn ich eigentlich versuche,
ihre
Ängste zu beschwören.
    Ja! Aber an anderen Orten werden zeitgleich neue Setzlinge gepflanzt, sagt Roman. Kennst du die Geschichte von Felix? Dieser Junge aus Bayern hat die Kinder in aller Welt gebeten, Bäume zu pflanzen. Daraus wurde eine Bewegung, und die Kinder haben innerhalb von ein paar Jahren fast 13 Milliarden Setzlinge in die Erde gesteckt, stell dir vor! Und auch andere Menschen tun was. Die Zahl der Bäume auf der Erde wächst sogar, wusstest du das nicht?
    Nein! – Ich bin erstaunt, will aber nicht kapitulieren. – Und die Tiere, tun sie dir nicht leid?
    Auch das noch! – Roman rollt seine Augenäpfel sarkastisch gen Himmel.
    Dann schaut er mir direkt in die Augen und sagt, streng und ultimativ, wie ein Lehrer: Sowohl den Tieren als auch uns Menschen geht es heute viel besser als vor hundert Jahren. Oder willst du das etwa bestreiten? Hast du es schlechter als deine Eltern oder Großeltern?
    Während unseres nächsten Spaziergangs aber wird mein frisch aufgepfropfter Optimismus einer Härteprobe unterzogen. Nachdem wir den Prominentenfriedhof in der Chausseestraße erkundet haben, bleiben wir vor dem Fenster einer Kunstgalerie stehen. Mitten im großen weißen Zimmer steht eine große Frauenpuppe, sie reicht fast bis unter die Decke, der breite Glockenrock des Abendkleids wirbelt um den unsichtbaren Sockel und fällt bis hinunter zum Boden. Der Rock besteht aus unzähligen Farbabbildungen, alle sind in rot-orangen Tönen gehalten: Ein Pärchen küsst sich im romantischen Sonnenuntergang am Strand. Eine Explosion. Rote Brandwunden an den Händen. Roter Sonnenuntergang am Meer. Brennender Wald. Ein erregtes männliches Geschlecht, dunkelrosa angelaufen. Pfirsichrote Flamingos, in Ballerina-Posen erstarrt. Brennende Häuser, durch den Tsunami von Land gespült, schweben auf hohen Wellen. Blutroter Schnee bei einer Robbenjagd. Die schinkenrosa Schenkel eines Pin-up-Mädchens. Rotes Wasser beim Walfang. Purpurroter Sonnenaufgang, von einer Hotelterrasse aus gesehen. Die Explosion auf einer Ölplattform. Dünnbeinige Models marschieren auf dem Laufsteg mit orangefarbenen, federgeschmückten Roben. Brennende Fackeln auf Ölfeldern – die nahtlos zusammengeklebten Bilder werden zu prachtvollem Brokat, rot wie Feuer, rot wie Fleisch, rot wie Brandwunden, rot wie Blut, rot wie die Abendsonne über dem Meer.
    Ist es dir jetzt klar, dass es sich hier nicht um die Welt handelt, sondern um Optik? Ich sehe hier Mädchenbeine, du die armen Robben, und dieser Mann, der gerade vorbeigeeilt ist, hat aus dem Augenwinkel vielleicht nur einen orangefarbenen Fleck im Fenster gesehen. Denn seine ganze Aufmerksamkeit galt uns zwei Bekloppten, die ihm den Weg versperren. – Roman zieht mich leicht am Arm, weiter, weg vom Fenster.
    Aber es sind immerhin Fotos, und all dieser Schrecken ist wahr. Dieses Feuer überall.
    Na, du musst dich doch festlegen! Neulich hieß es, wir werden alle ertrinken, und heute geht’s ums Verbrennen.
    Stimmt, lache ich. – Entweder – oder. Aber eigentlich interessiert mich das jetzt gar nicht mehr.

4
    Schwimmen lerne ich sowieso, das steht fest!, protze ich vor Marina. – Roman meint, dass ich auch noch andere Dinge im Leben unbedingt versuchen muss. Irgendwas. Malen, tanzen … Seine Tante zum Beispiel, eine Biologielehrerin im Ruhestand, hat Medizin studiert und arbeitet in Afrika – krass, nicht wahr?
    Wie, willst du jetzt Medizin studieren? – Marina schaut kurz zu mir, ihre Sinne und Nerven aber gelten allein dem Bildschirm des Laptops.
    Aber nein! Es war nur ein Beispiel dafür, dass es nie zu spät ist, das Leben vollkommen zu ändern! Ihm gefällt es sehr, wie ich über meinen Alten rede und ihm seine Geschichten nacherzähle. Ich könnte versuchen, sie aufzuschreiben. Er …
    Meine Rede! Auf mich hörst du aber nie, und auf ihn schon. Pass auf, dass du ihn nicht zu sehr …
    Was zu sehr?
    Vergötterst oder so. – Marina taucht wieder in die digitalen Tiefen, und ihre Körperhaltung zeigt, dass sie für mich nicht mehr da ist.
    Gott hin oder her, die Nähe zu Roman lässt mich die Schwächen der Sterblichen großzügig übersehen oder gar verzeihen. Den Umschlag mit dem dicken Geldstapel

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