Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
Vom Netzwerk:
schwarze Embryo sowohl der Anfang als auch das Ende ist.
    Ich beharre darauf, selbst zu bezahlen (wie mir Marina streng empfohlen hat). Als wir das Märchenzimmer verlassen, stürmen uns Menschen entgegen, die über den frei gewordenen Tisch erfreut sind. Vor der Türschwelle stolpern wir über abgelegte Schuhe, der breite Korridor ist leer. Irgendwo im benachbarten Zimmer klappern Messer und klirrt Geschirr, die Luft ist von schweren Küchenausdünstungen durchdrungen, nur ein großer Spiegel an der Wand erinnert uns, dass wir uns doch in einem Palast befinden. Vor unserem Bild verlangsamen wir den Schritt, bleiben aber nicht stehen.
    Ich weiß nicht, warum ich dir das alles über meine Eltern erzählt habe, sagt Roman. – Vielleicht um zu zeigen, dass auch die Villenbewohner unter ihren Tannen nicht von Sehnsucht, Verzweiflung oder Tod verschont sind.
    Was hat dich am meisten gestört in deiner Kindheit?
    Wie gesagt, wir waren eine gute Familie, es ging uns gut. Nur – es war fast unerträglich zu sehen, wie die Liebe zwischen meinen Eltern so langsam dahinschwand, tropfenweise, wie Wasser aus einem undichten Fass. Sie haben aber beide miteinander so geredet, als ob das Fass noch intakt wäre, und ihre Stimmen taten mir in den Ohren weh.
    Inzwischen sind wir schon draußen, die Museumsinsel ist leer und romantisch. Wasser, Brücken, Stein, Klassizismus, wenig Licht, keine Werbung – das Sankt Petersburg meiner Jugend.
    Und deine Mutter? – Ich muss schreien, denn auf der kleinen Brücke hinter dem Neuen Museum spielt eine alte Frau Akkordeon – buntes Kopftuch, alte dunkle Hände und ein heiteres Lächeln, das wegen fehlender Zähne sehr kindlich wirkt. Was wurde aus deiner Mutter?
    Nach dem Tod meines Vaters hat sie einen kleinen, stämmigen Kapitän geheiratet, der ein kleines Touristenschiff über den Rhein fährt, und sie hilft ihm, indem sie die Gäste mit Getränken bewirtet. Und seitdem schreibt sie nicht mehr. Wir sehen uns nicht so oft, aber ich glaube, ihr geht es gut. Und deine Mutter wohnt immer noch in Russland?
    Ja, und leider hat sie keinen Kapitän mehr an ihrer Seite. Sie sitzt da fast allein und wartet auf den baldigen Weltuntergang. Und dieser unheilbringende Tempel – ich zeige auf das Pergamonmuseum – mit Satans Thron wird bei der Apokalypse eine Schlüsselrolle spielen, meint sie.
    So ein Unsinn! – Roman lächelt nachsichtig.
    Ja, das sage ich meiner Mutter auch und ärgere mich über sie, aber … – wir stehen am Ufergelände, unten schwappt dunkles Spreewasser. – Sag mal, hast du keine Angst vor irgendeinem großen Unheil, das sich gegen uns alle zusammenbraut? Diese lähmende Angst, die einem jede Motivation raubt …
    Solche Prophezeiungen sind für mich eher ein Ansporn, meine Träume schneller zu erfüllen, zu handeln, möglichst viele Erfahrungen zu machen. Und selbst wenn wir in der Tat bald untergehen müssen, was bringt es, sich jetzt darüber Sorgen zu machen und sich den kurzen Rest des Lebens zu verderben? Denk mal rational darüber nach!
    Aber wenn das Rationale schläft? Träumst du nie etwas ganz Schlimmes?
    Oft! Dass ich den falschen Knopf drücke, die Dosierung verwechsle oder sonst etwas tue, und der Patient stirbt. Danach versammeln sich alle um sein Totenlager und schauen mich an. Aber auch das schenkt mir im Moment des Wachwerdens die Freude: Mein Gott! Es war nur ein Traum! – Roman faltet seine Handflächen theatralisch vor dem Adamsapfel.
    Mein Horror ist das schwarze Wasser, schwarz wie dieses. – Ich zeige auf die Spree, die vor dem grandiosen Pergamonmuseum wogt. – Die Idee, dass das Wasser steigt, verfolgt mich, es leckt an meinen Fersen, und wenn mir die Puste ausgeht, werde ich wach.
    Kann es sein, dass du nicht schwimmen kannst?
    Stimmt.
    Das ist die Erklärung. Wer Höhenangst hat, träumt von hohen Türmen, ein anderer kämpft mit der Angst vor Erdbeben oder vor der Kündigung.
    Jedem seine eigene Apokalypse?
    Ja. Reine Projektion subjektiver Ängste.
    Das klingt sehr ermutigend und sicher. Genau das macht Roman so attraktiv für mich: diese ruhige, besonnene Stärke eines rationalen westlichen Menschen, der sich etwas traut, sich beherrscht und sich gefällt.
    Und die Klimaerwärmung und diese Hochwasser überall, die knappen Ressourcen …
    Es gab schon immer Klimaschwankungen, sogar in der neueren Geschichte, eine kleine Eiszeit, zum Beispiel, im 17. Jahrhundert. Mal wird es wärmer und dann wieder kälter. Und wenn alles knapp wird, essen

Weitere Kostenlose Bücher