Berlin liegt im Osten (German Edition)
zusammen – heimatlos, besitzlos, leicht und neugierig schwebten wir über dieser Stadt, deren Straßen wie gut gefedert schienen: Kaum den Boden berührt habend, sprangen wir wieder in die Höhe. Der Saturn braucht achtundzwanzig oder neunundzwanzig Jahre für einen Umlauf, sagt Maria Benvenista – ein Menschenalter, in dem man verstreute Steine für das Leben zusammenträgt, ankert, nestelt, sich in einem Beruf festlegt und sich behauptet. Wir beide aber, von den Ausdünstungen des Paradieses verzaubert, schwebten über der Erde, von unseren achtundzwanzig Jahren in schwärmerische achtzehn zurück versetzt.
Vom Asylheim zogen wir in eine entzückende Dreizimmer-Neubauwohnung in Marzahn. Hell, weiß, mit zwei Balkons, flauschigem Teppichboden, der unsere Füße wärmte und liebkoste wie Strandsand an einem sonnigen Tag. Diese gnadenlose Helligkeit wurde uns zum Verhängnis – bald mussten wir einsehen, dass uns bei der Verwirklichung unserer Träume nicht der Kommunismus im Weg gestanden war, sondern wir uns selbst. Jede Falte, jeder Pickel im Gesicht des Anderen war nun viel zu deutlich, deutlicher als vorher in Sankt Petersburg.
Warum sitzt du nur rum und liest? Geh zu irgendeinem Kurs,
Schreibende Hausfrauen
oder so, du wolltest doch etwas schriftstellern, oder?, ärgerte sich Schura.
Mit meinem Deutsch?, verteidigte ich mich. – Außerdem hast du ja hier eine kaufmännische Fortbildung gemacht. Und?
Du weißt, dass mein Business im Aufbau ist! Und du könntest genauso gut in Sankt Petersburg sitzen und lesen. Oder in deiner Stadt am Arsch der Welt.
Gebleicht, ausgewaschen, fast aufgelöst saßen wir in der sonnigen, terrariumähnlichen Wohnung und zankten. Marina aber wuchs in die neue Umwelt mit freudiger Bereitschaft hinein. Nach einem Jahr ging sie in die erste Klasse: mit einem voluminösen, aber leichten rosafarbenen Tornister und mit einem bunten Füllhorn von Schultüte, ganz wie ich es mir einst vorgestellt hatte (in Russland bringen Kinder am ersten Schultag einen Dahlienstrauß für die künftige Lehrerin). Marina hatte keinerlei Probleme mit der Sprache, und auch sonst fühlte sie sich in der Schule sehr wohl. Ich dagegen zitterte vor dem ersten Elterngespräch wie ein Birkenblatt. Vieles davon, was die Lehrerin mir über meine Tochter erzählte, verstand ich kaum.
Mein Wortschatz reichte aber aus, um zu erkennen, wie Marina uns, ihre Eltern, gerne sehen würde: Marina hat mir erzählt, dass Ihre journalistische Tätigkeit sehr anstrengend ist, dass Sie Reportagen aus gefährlichen Gebieten schreiben und dass Ihr Mann sehr, sehr viel arbeitet, sagte die Lehrerin, Frau Klein, und schaute mich prüfend an. Wie ein Dolch stach mir jedes ihrer Worte zwischen die Rippen und traf jedes Mal irgendeine für mich unbekannte empfindliche, weiche Stelle.
Schura war seit unserem ersten Tag in Berlin tatsächlich sehr beschäftigt. Er verkaufte russische abstrakte Malerei an die Deutschen, deutsche Mobiltelefone an die Ukrainer; er transferierte Edelsteine aus Thailand nach Österreich und Schweizer Uhren in die Mongolei. Wenn ihn eine neue Geschäftsidee ergriff, lief er mit erweiterten Pupillen durch die Wohnung wie ein aufgezogenes Blechspielzeug, ließ das Telefon nicht aus der Hand, aß kaum und verschwand dann mit den Worten
Ich bin gleich zurück!
für den ganzen Tag.
Manchmal kam er tatsächlich irgendwo in der Stadt mit großem Geld in Berührung, und wir machten prachtvolle Urlaube in Nizza oder in Karlsbad oder an anderen Orten, deren Namen für das russische Ohr nobel und reich klingen. Geschenke, die Schura uns in solchen fruchtbaren Phasen darbrachte, hatten mindestens
KaDeWe
-Format. Es konnte ein
Chanel
-Parfüm für mich sein oder rote italienische Lackschuhe für Marina. Einmal führte er uns zum
Nussknacker
in die Staatsoper aus. Der Preis für die drei Karten war dreistellig. In unserem früheren Leben hatten wir uns für
upper class
gehalten und wollten hier die Latte nicht tiefer legen. Wir interessierten uns lebhaft für das Musische: Schura als angehender Geschäftsmann und Mäzen, und ich vermutete in mir sogar eine eingesperrte künstlerische Begabung. In den goldenen Tagen tafelte bei uns die große Gesellschaft, bestehend aus irgendwelchen russischen oder GUS-Staaten-Künstlern. Es waren Menschen mit lauten Stimmen, die sich ihrer Selbstentfaltung verpflichtet fühlten, Menschen, deren Zukunft Flügel haben sollte. Von wegen! Aus der wirren Perestroika gerieten wir ins
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